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«Der Bundesrat steckt im Teufelskreis der Niederlagen»

Brachte seine Vorlage nicht durchs Volk: Verkehrsminister Albert Rösti.
Keystone / Peter Schneider

Die Schweiz verwirft den Plan zum Autobahnausbau von Bundesrat und Parlament. Schon wieder verlieren die Behörden damit an den Urnen. Politologin Martina Mousson von gfs.bern ordnet ein.

Martina Mousson, was bleibt von diesem Sonntag?

Mich beeindruckte die Zitterpartie um die beiden Mietrechtsvorlagen, sehr lange blieb es sehr knapp. So knappe Resultate weisen auf eine starke Polarisierung hin, und wir sehen das gleich in drei der vier Vorlagen dieses Sonntags.

Knappe Resultate bergen die Gefahr, dass im Nachhinein noch gestritten und interpretiert wird.

Ja, gerade beim Autobahnausbau läuft es darauf hinaus. Denn die Gelder für den Strassenverkehr sind gebunden. Die Frage stellt sich schon heute: Was macht man jetzt mit diesen Milliarden? Die Kontroverse ist angelegt, sie wird weitergehen.

Martina Mousson
Martina Mousson vom Institut gfs.bern zVg

Warum hat es die Autobahnvorlage nach anfänglicher Zustimmung nicht geschafft? Ist mit den Autofahrenden in der Schweiz keine Abstimmung mehr zu gewinnen?

So würde ich es nicht sagen. Die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer besitzt ein Auto, und die Mehrheit der Menschen im Land pendelt auch mit dem öffentlichen Verkehr. Kommt dazu: Die Gelder sind da, sie sind in einem Fonds gebunden. Man muss sie also verwenden, aber vielleicht nicht so wie es diese Vorlage vorsah. Für die Stimmbevölkerung scheint eine nachhaltigere Verkehrspolitik wichtiger zu sein.

Könnte auch sein, dass die Ausbau-Projekte nicht breit genug über die Schweiz verteilt waren?

Die Vorlage war ein Produkt der parlamentarischen Ausmarchung. Man nahm dabei sehr bewusst ein Projekt in der Westschweiz mit hinein. Die Schwäche war eher, dass mit dem Lösungsvorschlag in den Augen der Stimmbevölkerung das Gesamtproblem nicht gelöst, sondern nur an die nächste neuralgische Stelle verschoben wurde.

Bundesrat Albert Rösti hat die Vorlage vertreten. Bisher ist ihm eigentlich alles gelungen. Wie empfindlich ist die Niederlage für ihn?

Sie ist nicht zu unterschätzen. Sie erfolgte in einem Bereich, in dem er sich in der Vergangenheit stark und spürbar engagierte. In der Summe hat der Verkehrsminister somit ein kritisches Fazit zu ziehen.

Der Bundesrat hat mit den Autobahnen, der 13. AHV und BVG-Reform dieses Jahr drei wichtige Abstimmungen verloren. Mangelt es an Vertrauen im Volk?

Wir messen in unseren Umfragen tatsächlich, dass der Bundesrat in der Bevölkerung an Vertrauen verliert. Wir haben sogar erstmals eine relative Mehrheit, die angibt, dass sie dem Bundesrat nicht vertraut. Die Frage ist aber: Was war zuerst? Haben die Niederlagen des Bundesrats in wichtigen Fragen zu diesem Vertrauensverlust geführt? Oder hat der Vertrauensverlust zu diesen Niederlagen geführt? Es ist auf jeden Fall ein Teufelskreis. Der Bundesrat wird als schwach wahrgenommen, weil er verliert, was ihn wiederum schwächt.

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Ökothemen hatten es zuletzt schwer, die Grünen büssten in Wahlen empfindlich ein. Ist das Nein zum Autobahn-Ausbau tatsächlich auch ein Sieg der Grünen?

Ja, es ist die Gegenposition zu einem anti-grünen Zeitgeist, der auch ausserhalb der Schweizer Grenzen herrscht. Man kann sagen, nach dem Rechtsrutsch bei den Wahlen 2023 schlägt das Pendel bei den Abstimmungen nun zurück. Auch Linke und Gewerkschaften haben ihre Referendumsmacht im laufenden Jahr eindrücklich bewiesen.

Bei den Mietrechtsvorlagen gewannen diese nun etwas knapper, aber die Kampagnen-Dominanz der Linken setzt sich fort. Wie machen sie das?

Sie wählen ganz offensichtlich nicht den klassischen Weg. Schaut man die Inserate in den Printmedien an, fällt auf, dass sie dort wenig präsent waren. Sie haben sich andere Wege erschlossen, sind vor allem stark im sozialmedialen Raum vertreten. Sie schlagen darüber hinaus auch neue Töne an. Manche reden von einem Linkspopulismus, der sich dem Rechtspopulismus entgegenstellt.

Die Gegnerschaft hat die beiden Mietrechtsvorlagen im Paket angegriffen. Die Stimmbevölkerung hat aber ganz offensichtlich differenzierter geurteilt. Was ist passiert?

Dass die Gegner beide Vorlagen als «Angriff auf den Mieterschutz» zusammenfassten, war als Taktik von Erfolg gekrönt. Die Differenzierung erfolgte mit der Betroffenheit der Abstimmenden. Die Vorlage zu den Untervermietungen zielte auch auf kommerzielle Weitervermietungen. Diese werden gerade in Städten als Problem und als Preistreiber angesehen. Diese Vorlage lag damit wohl etwas näher bei der Welt der Mieterinnen und Mieter als die Thematik des Eigenbedarfs.

Die EFAS-Vorlage galt als Minischritt zur Reform im Gesundheitswesen. Das scheint gelungen. Ist damit ein Rezept für Reformen in der Schweiz gefunden? Je kleiner die Schritte, desto eher der Erfolg?

Ich würde eher sagen: Je breiter die Allianz hinter einer Vorlage, desto eher wird eine Reform noch möglich. Denn es stimmt schon: Die grossen Würfe sind in der Schweiz in letzter Zeit nicht mehr gelungen.

Die Komplexität der EFAS-Vorlage führte nicht zu einem Nein, wie sonst bei komplexen Vorlagen üblich. Welches Argument hat überzeugt?

Am stärksten im Raum war das Argument der steigenden Krankenkassenprämien, auf beiden Seiten.

Die Stadt Zürich stimmte über die Verwendung des Gendersterns in der Behördensprache ab, dies gilt als die weltweit erste Abstimmung über den Genderstern. Typisch Schweiz?

Sehr typisch Schweiz. In der Regel hilft das, Veränderungen in der Gesellschaft zu verankern, die Gegner:innen des Gendersterns verloren ja an der Urne. Man sah das auch bei den Corona-Abstimmungen sehr schön. Je mehr darüber abgestimmt wurde, desto weniger Wind hatte die Gegnerschaft in den Segeln. Irgendwann kann man dann nicht mehr sagen, es sei von oben befohlen.

In der Stadt Basel wollten konservative Kreise die Durchführung des Eurovision Song Contest per Volksabstimmung stoppen. Solche Urnengänge können eine Diskussion um umstrittene Themen ermöglichen. In diesem Fall blieb es aber ruhig, warum?

Der Widerstand war auf einen kleinen Kreis beschränkt. Es war dennoch wichtig, dass diese Diskussion stattfinden konnte. Das ist die integrative Wirkung der direkten Demokratie. In den kritischen Kreisen wird sich die Stimmung deswegen nicht verändern, aber sie sehen, dass sie nicht breiter abgestützt sind.

Editiert von Mark Livingston

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