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Der Kampf der Gewerkschaften für die Kaufkraft

Keystone

Die Gewerkschaften sehen sich als Speerspitze im Kampf gegen die derzeitige Finanzkrise. Für sie ist die Erhaltung der Kaufkraft derzeit das wichtigste Ziel, wie Paul Rechsteiner, Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, im Interview betont.

swissinfo.ch: Die Krise hat auf den Arbeitsmarkt übergegriffen. Rundherum kommt es zu Entlassungen. Letztes Beispiel bei Georg Fischer am Donnerstag. Schauen die Gewerkschaften nur ohnmächtig zu?

Paul Rechsteiner: Der Gewerkschaftsbund hat bereits mit dem Ausbruch der Finanzkrise ein Konjunkturprogramm gefordert.

Diese Forderungen sind teilweise eingelöst worden, beispielsweise durch die Verlängerung der Frist für die Kurzarbeit, die jetzt in grossem Stil praktiziert wird.

Diese ist eine Möglichkeit für Unternehmen, vor allem in der Exportindustrie, das Produktions-Potenzial zu behalten und auf Entlassungen zu verzichten.

Das Problem ist: Wenn die Krise länger dauert, müssen wir trotzdem mit Entlassungen im grösseren Stil rechnen. Es ist so, dass der Personalabbau begonnen hat. Die Gewerkschaften versuchen da, Gegensteuer zu geben.

Wobei die Verhältnisse sehr unterschiedlich sind zwischen Teilen der Exportindustrie und der Binnenwirtschaft. Weil die inländische Wirtschaft im Moment noch gut läuft dank der Kaufkraft.

Daher ist es ausschlaggebend für die Weiterentwicklung der Krise, dass es ein richtiges Konjunkturpaket geben wird, das auf den kommenden 1. Januar wirksam werden muss.

swissinfo.ch: Was nützt es Kurzarbeitenden und Entlassenen, Mitglied bei einer Gewerkschaft zu sein?

P.R.: Es bringt den Einzelnen eine Hilfe bei Problemen rechtlicher Natur, Arbeitslosenversicherung und so weiter. Aber viel wichtiger: erst durch einen kollektiven Gegendruck können regelmässig Massnahmen getroffen werden, die Entlassungen verhindern.

Alle Massnahmen gegen die Krise auf Stufe des Staates waren bis jetzt das Ergebnis gewerkschaftlicher Forderungen.

Die einzige Möglichkeit, sich wirksam für seine Interessen zu wehren, Arbeitsplätze, Löhne, soziale Bedingungen, ist das Prinzip des Kollektiven, dass man gemeinsam antritt. So gesehen wird der gewerkschaftliche Gedanke wieder einen grösseren Stellenwert bekommen als in der Vergangenheit.

swissinfo.ch: Für viele zeigen die Gewerkschaften zu wenig ihre Zähne. Bei Lohnrunden und Verhandlungen über Arbeitszeitmodelle wirken sie heute oft nur wie «Durchwinker» der Geschäftsleitung.

P.R.: Ich glaube, jene, die ihre Augen offen haben, sehen, dass dort, wo sich Leute gewerkschaftlich organisieren, die Resultate entsprechend positiv sind.

Ich erinnere an den grössten Streik des letzten Jahres in den Industriewerken in Bellinzona. Die SBB wollten diese schliessen. Der Streik hat dazu geführt, dass diese Arbeitsplätze erhalten blieben.

swissinfo.ch: Rundum müssen unter anderem Pensionskassen auf Kosten der Arbeitnehmenden saniert werden. Entsteht so nicht der Eindruck, dass die Schwächsten die Krise allein ausbaden müssen?

P.R.: Wenn es keinen gewerkschaftlichen Gegendruck gibt, wird das genau so sein. Es ist ein ganz grosser Verteilungskampf im Gang.

Wir haben einen Bundesrat, der noch die Agenda der neoliberalen Jahre verfolgt: Steuersenkungen für hohe Einkommen, Druck auf tiefe und mittlere Einkommen.

Bei Plänen, die Renten zu senken bei Pensionskassen und Alters- und Hinterlassenenversicherung, wehren sich die Gewerkschaften für die sozialen Ansprüche.

swissinfo.ch: Können die Gewerkschaften derzeit mehr tun als nur nach noch mehr staatlicher Hilfe zu rufen?

P.R.: Insgesamt braucht es sehr verschiedene Massnahmen, je nachdem, welche Branche betroffen ist. Die inländische Wirtschaft ist im Moment entscheidend für die Beschäftigungslage.

Deshalb sind Konjunkturprogramme von wichtiger Bedeutung. Erhaltung der Kaufkraft und Investitionsprogramme werden kommen müssen.

Wir haben das Problem, dass in der Schweiz mit dem Rückgang der Steuereinnahmen die öffentliche Hand auf Stufe Bund, Kantone und Gemeinden Ausgaben herunterfahren wird.

Das hat eine fatale krisenverstärkende Wirkung. Es muss dafür gesorgt werden, dass die öffentliche Hand in dieser schwierigen Zeit investiert statt spart. Das verlangt auch die Bundesverfassung.

swissinfo.ch: Sind solche Ausgaben nicht ein Problem für kommende Generationen?

P.R.: Insgesamt ist der Schweizer Staat ausserordentlich gut finanziert und in der Lage, Massnahmen zu treffen.

Der Schaden, der angerichtet wird für künftige Generationen, ist x-Mal grösser, wenn der Staat wie in den 1930er-Jahren einfach passiv zuschaut oder sogar die Krise noch verstärkt, wie teilweise in den 1990er-Jahren. Das ist viel schädlicher, als wenn der Staat jetzt für diese Programme Ausgaben tätigt.

swissinfo.ch: Was erwarten Sie für die kommende Lohnrunde im Herbst?

P.R.: Die Wirtschaftsentwicklung in der Schweiz wird eindeutig von der Kaufkraft der Leute abhängig sein.

Und wir haben hier ein ganz massives Problem bei den Krankenkassenprämien, die wie angekündigt in der Grössenordnung von 15 bis 20 Prozent steigen werden – ein Kaufkraftverlust von rund 3 Milliarden Franken.

Hier ist die öffentliche Hand in allererster Linie gefordert, Gegendruck zu machen, Prämienverbilligungen auszubauen, die Kaufkraft zu stärken.

swissinfo.ch: Das tönt nach einem heissen Herbst?

P.R.: Auf politischer Ebene ist das so. Wir werden uns gegen eine Politik der Entlassungen wehren.

Wir haben bereits wegen der aussergewöhnlichen Situation beschlossen, Mitte September in Bern eine Grosskundgebung durchzuführen, erstmals seit vielen Jahren wieder, um den nötigen Druck auf das Bundesparlament auszuüben.

Christian Raaflaub, swissinfo.ch

Schon im November 2008 hat der Bundesrat erste Massnahmen zur Stützung der Konjunktur beschlossen.

Damals hat er dem Parlament vorgeschlagen, für 2009 Ausgaben in der Höhe von rund 340 Millionen Franken vorzuziehen.

Dazu gab der Bundesrat die Arbeitsbeschaffungsreserven der Unternehmen im Umfang von 550 Millionen Franken frei. Damit wurden für 2009 insgesamt rund 890 Millionen Franken ausgelöst.

Das zweite Investitions-Programm von 700 Millionen Franken beschloss die Landesregierung im Februar.

Mit Steuerreformen sollte die Kaufkraft der Haushalte gestärkt werden.

Nun steht bereits ein drittes Konjunkturprogramm zur Debatte: Falls sich die Landesregierung im Juni dazu entschliesst, hat das Verkehrs- und Umwelt-Departement Vorschläge für Investitionen in Höhe von rund einer Milliarde Franken in der Schublade.

Einnahmen aus der CO2-Abgabe sollen als Sofortmassnahme schneller erstattet werden.

Das gibt laut Bundesrat Moritz Leuenberger für das Jahr 2010 rund 500 Millionen Franken, die an die Bevölkerung und die Wirtschaft zurückfliessen und die Kaufkraft unmittelbar erhöhen.

Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) wurde 1880 gegründet.

Er ist die grösste Dachorganisation der Gewerkschaften und vertritt die Interessen von 16 Gewerkschaften mit insgesamt rund 380’000 Mitgliedern.

Die zweitgrösste Organisation, Travail.Suisse, vereint 13 Gewerkschaften mit insgesamt rund 160’000 Mitgliedern.

Beide Organisationen bezeichnen sich als politisch und religiös unabhängig.

Trotzdem ist der SGB historisch dem Sozialismus näher, während Travail.Suisse eher christlich geprägte Gewerkschaften vertritt.

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