Der Populist Gottes
Der Zürcher Obdachlosen-Pfarrer Ernst Sieber ist eine Legende. Seine Vision von einer solidarischen und gerechteren Welt beseelt den 80-Jährigen immer noch.
swissinfo hat sich mit dem bekanntesten Pfarrer der Schweiz, der sich seit Jahrzehnten für Arme und Randständige einsetzt, über sein bisheriges und zukünftiges Lebenswerk unterhalten.
swissinfo: Was bedeutet für Sie Ostern?
Ernst Sieber: Ostern verbinde ich mit der Auferstehung Jesu Christi. Für Christen ist das eine Sache der Zukunft. «Wer an mich glaubt, wird auch leben, wenn er stirbt und in Ewigkeit nicht sterben» – ein Zitat Jesu.
Ostern wird zur Revolution, wenn wir die Auferstehung mit der heutigen politischen, wirtschaftlichen Realität der Menschen sehen: Die Hungernden auf der Welt, die Bedürftigen bei uns müssen Brot und Liebe haben – die Welt muss aufstehen. Ostern ist gegenwärtig, jetzt.
swissinfo: Was ist für Sie Glaube?
E.S.: Dazu eine Geschichte. Ein Pfarrer kommt bei einem Bauern vorbei. Dieser hat den Garten umgegraben. Der Pfarrer sieht, dass bereits grüne Pflanzen gewachsen sind und sagt zu ihm: «Da haben Gott und Sie schon viel fertig gebracht.» Der Bauer: «Ja ja, Sie hätten den Garten aber sehen sollen, als er noch Gott allein gehörte.»
Das heisst doch, dass wir Werkzeuge Jesu Christi sein sollen, nicht nur im liturgischen, spirituellen Bereich, sondern im materiellen, weltlichen. Dass wir etwas gestalten, mit Liebe, Würde. Nur so können wir eine bessere, gerechtere Welt aufbauen.
swissinfo: Beschäftigt Sie der Zusammenprall der Religionen?
E.S.: Ich war in Afghanistan und habe eine Gruppe der gesetzgebenden Behörde dieses islamischen Landes getroffen. Einer von ihnen kam auf mich zu und öffnete die Hand. Darin lag ein kleines, silbernes Kreuz. Das habe er in einem uralten Grab gefunden. «Das schenke ich dir aus Ehrfurcht.»
In Afghanistan habe ich erlebt, dass religiöse Grenzen absolut keine Rolle spielen, wo Menschen sich in Liebe begegnen. Und wer sagt, Jesus wehre sich gegen diese Verbrüderung, Versöhnung, der ist falsch gespurt!
swissinfo: Fast 2000 Menschen jeden Alters, aus allen Schichten und auch Politprominenz besuchten vor wenigen Wochen den Festgottesdienst zu Ihrem 80. Geburtstag im Zürcher Grossmünster. Waren Sie gerührt?
E.S.: Ich war erfreut über die vielen Menschen, ich rechnete nie mit diesem Zulauf. Es waren Menschen, die mir in den letzten Jahrzehnten irgendwo begegnet sind.
Ich war bewegt, denn da war auch Christus dabei – selbst wenn Hunde anwesend waren, die mitten in die Predigt hinein gebellt haben!
swissinfo: Sie sind der Mann der unbürokratischen Soforthilfe. Die Zürcher Sozialvorsteherin Monika Stocker nennt Sie «einen Populisten Gottes». Gibt es Probleme zwischen der staatlichen Sozialfürsorge und Ihnen?
E.S.: Wenn es keine Probleme gäbe, würde etwas im Verständnis der christlich-kirchlichen Diakonie nicht stimmen.
Übrigens, die Monika, die sagt mir «Bruder Ernst», deshalb sage ich jetzt auch «Schwester Monika». Und was hat «Schwester Monika» letzthin gesagt? «Der Staat kann nicht lieben.»
swissinfo: Und Sie haben letzthin gesagt, Sie würden die Sozialhilfe am liebsten abschaffen…
E.S.:…Eben weil der Staat nicht lieben kann! Ich frage Sie: Lebt der Mensch von Brot allein oder braucht er nicht doch primär Liebe?
Ich will die Leute heilen, indem ich den Obdachlosen, Randständigen nicht nur Brot, sondern vor allem ihre Würde und ihr Selbstbewusstsein zurückgebe.
swissinfo: Sie sind 80 Jahre alt und immer noch voller Tatendrang. Woher nehmen Sie die Kraft?
E.S.: Sehen Sie, draussen scheint die Sonne. Ich lasse mich durch sie aufladen. Jede Begegnung mit Menschen gibt mir Kraft: Ich gebe etwas, aber gleichzeitig erwarte, erhalte ich auch etwas.
Dann habe ich meine Mitarbeiter, und mein Wirken wird seit jeher von meiner Frau getragen. Meine acht Kinder haben mein Lebenswerk mitbegleitet. Dazu kommt selbstverständlich ein tägliches Gebet, ohne das geht’s nicht. Ich nehme Gott beim Wort, auch wenn’s Krach gibt.
swissinfo: Die Stiftung Sozialwerke Pfarrer Ernst Sieber (SWS) kam vor ein paar Jahren in wirtschaftliche Schieflage. Ein Vertrauter von Ihnen hatte Geld unterschlagen. Als «Familienvater» versuchten Sie, die Tat des Buchhalters zu vertuschen. Sie mussten sich aus der SWS zurückziehen. Hat Sie das geschmerzt?
E.S.: Meine Arbeit geht genau gleich weiter. Ich habe nie eine Machtposition gehabt, leidenden Menschen kann ich nur als Partner begegnen.
Ich bin schliesslich Theologe, nicht Finanzfachmann. Als Gottesknecht bin ich bereit, auch die Fehler anderer zu übernehmen.
swissinfo: Heute gibt es immer noch Krieg, Armut, Elend, Gewalt. Auch in der reichen Schweiz hat es Obdachlose, Randständige. Hat Gott versagt?
E.S.: Nein. Man erwartet von Gott, dass er alles managt, den Staat zum Versorgerstaat macht – geht nicht. Gott hat mit der Botschaft am Kreuz dem Menschen jene Kräfte gezeigt, die nötig sind, um eine friedliche Welt zu schaffen.
Jetzt müssen wir etwas tun. Heute, nicht morgen müssen wir die Welt zu retten versuchen. Ich bin nicht zornig auf Gott, sondern eher erstaunt, dass er nicht zorniger auf die Menschen ist.
swissinfo: Als Obdachlosenpfarrer haben Sie Jahrzehnte lang nur gegeben, für andere gelebt. Haben Sie auch etwas erhalten?
E.S.: Ewiges Leben, heute. Ich denke an meinen letzten Gottesdienst oder an unsere Begegnung hier.
Gibt es denn etwas Schöneres als Menschen zu spüren, die auf eine bessere Welt hoffen, Menschen, die wissen, dass die Liebe stärker ist als der Tod?
swissinfo-Interview: Jean-Michel Berthoud
Ernst Sieber wurde am 24. 02. 1927 in Horgen (ZH) geboren.
Als Bauernknecht in der Romandie tätig, dann Diplomausbildung an der Landwirtschaftlichen Schule Strickhof (1947).
Nach der Matura (1950) Theologiestudium mit Ordination (1956).
1987 Dr.h.c. der Theologischen Fakultät der Universität Zürich. Bis 1992 Pfarrer in Zürich Altstetten.
Gründer von rund 30 sozialdiakonischen Institutionen.
Seit 1958 mit der Sängerin Sonja Sieber-Vasalli verheiratet, mit der er 8 Kinder grossgezogen hat.
Ernst Sieber ist für Randständige in der Schweiz eine Vaterfigur.
Schon im Zürcher «Seegfrörni «-Winter 1963 rüstete er einen Bunker zum Heim für Obdachlose um.
In den 80er-Jahren trat er als nationaler Mahner gegen das Drogenelend auf dem Zürcher Platzspitz auf, was ihm den Weg als Vertreter der Evangelischen Volkspartei (EVP) in den Nationalrat ebnete.
Zu den besten Zeiten umfassten Siebers Sozialwerke therapeutische Lebensgemeinschaften, Notschlafstellen und Begegnungszentren in vier Kantonen mit 215 Mitarbeitenden.
Dann erschütterten Finanzaffären die Stiftung Sozialwerke Pfarrer Ernst Sieber (SWS). Ende 2004 drohte der SWS der Konkurs. Kirche, Staat und Spender retteten sie.
Sieber musste sich aus der SWS zurückziehen. Dem SWS-Gründer blieben das Ehrenpräsidium und der «Pfuusbus» für Obdachlose und Randständige im Zürcher Albisgütli.
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