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Der Taxifahrer von Gaza

Nahost-Korrespondent Gianluca Grossi. Ti-Press / Samuel Golay

A. ist ein Mythos. A. kennt den Gaza-Streifen wie seine Westentasche. A. ist ein Mann mit Hoffnungen, dessen Träume im Raketenhagel zerstört wurden. Der Schweizer Journalist Gianluca Grossi porträtiert seinen palästinensischen Taxifahrer.

Sein Name beginnt mit «A». Und deshalb nennen wir ihn einfach A. Auch aus Diskretionsgründen.

Als A. mir erstmals seinen Namen nannte, dachte ich, dass mir dieser Namen Glück bringen würde. Und so war es auch. Zumindest bis jetzt.

A. ist ein Mythos. Er ist der beste Taxifahrer im Gaza-Streifen. Er ist 30 Jahre jung, aber er wirkt, wie alle Palästinenser, wesentlich älter.

Wer und was ist A.? Er ist eine Presseagentur, ein Analyst, ein Ratgeber, ein PR-Mann, ein Wachhund, ein Leibwächter. Er ist ein Weiser. Er ist ein Profi, der keine Zeit zu verplempern hat.

Er spricht wenig. Nur das Nötigste. Und er spricht nur Arabisch. Auf Englisch bringt er höchstens one, two, three, very good hervor. Für mich nicht nur ein Nachteil: So habe ich Arabisch gelernt.

Am Abend nach der Arbeit assen wir häufig zusammen Fisch in einem Restaurant am Strand von Gaza-Stadt. Er erzählte mir von seiner Familie, von seiner Mutter ägyptischer Herkunft. Er nannte mir die Namen der Fische und beschrieb die Art und Weise, wie die Alten diese mit ihren kleinen Booten fischten. Sie fuhren am Abend nach dem Sonnenuntergang aufs Meer und bildeten eine Art Kette – wie Geschwister, die sich die Hand reichten, aber häufig unter Beschuss der israelischen Kreuzer.

Er erzählte mir, wie einst der Gaza-Streifen mit Israel verbunden war. Er raste mit seinem Taxi nach Norden, in die Nähe von Nethanya. Die israelischen Polizisten brummten ihm saftige Bussen auf. Das waren andere Zeiten, als man mit der israelischen Polizei noch diskutieren konnte. Tempi passati! Heute ist der Gaza-Streifen eingeschlossen. Ein verdammtes Gefängnis!

Hoffnung

Ich erinnere mich an eine eindrückliche Szene. Es war im Jahr 2005. Die Israelis hatten den Gaza-Streifen gerade verlassen. Es gab keine Siedler-Kolonien mehr, keine Panzer, die dich am Morgen überraschten wie eine kalte Dusche, keine Toten. Einfach frei.

Es war der Moment der Hoffnung. Der Moment der grossen Träume. Das Wort «Zukunft» erhielt wieder eine Bedeutung und – sagen wir – einen Geschmack, der verloren gegangen war. An diesem Tag hielt A. seinen Wagen an, stieg aus, und bat mich, dasselbe zu tun.

Vor einem Trümmerhaufen, vor den Ruinen eines zerstörten Hauses setzte er sich eine Sonnenbrille auf und sprach von dem, was er nun machen wollte. Jetzt, nachdem man ihm seine Freiheit zurückgegeben hatte.

Er steckte die Daumen in den Gürtel, spreizte die Beine und ging leicht in die Knie. Seine Haltung erinnerte an einen Cowboy, der selbstsicher vor dem Eingang zu einem Saloon steht. Wie in einem Western.

Er erzählte, dass er nun für einige Wochen so herumlaufen würde: Mit einer dunklen Sonnenbrille, Jeans, einem schönen Paar Stiefel und einer Jacke mit unendlich vielen Taschen. Er wollte in sein Auto steigen und erst halten, wenn der Tank leer wäre. Die Freiheit und der Wille zu einem anderen Leben triumphierten. Das Leben als eine Existenz, die man formen, verändern und selbstbestimmen kann.

Träume

A. erklärte mir, dass er einige Autos kaufen und dafür Fahrer anstellen wolle. Er dachte an Geschäftsleute und Investoren, die in den Gaza-Streifen kämen – ein freies Gebiet ohne Besatzer. Jemand hätte diese Leute chauffieren müssen. Jemand, der dieses Gebiet bestens kennt und über saubere, moderne und klimatisierte Fahrzeuge verfügt.

A. wäre nicht mehr selbst jeden Tag am Steuer gesessen. Er wollte die Einsätze vom Büro aus koordinieren. Mit den ersten Einkünften wollte er die Einrichtung in seinem Haus verschönern. Er träumte auch von einer Aufstockung des Hauses. Eine neue Etage über der Wohnung, die er mit seiner Frau und den Kindern bewohnte. Die Kinder hätte er gerne zur Schule und Universität geschickt, damit sie einen Beruf lernen und natürlich Englisch, die Sprache, die ihm selbst so fehlt.

Seine Kinder sollten das Leben haben, das er selbst nie hat führen können. Sie sollten im Ausland studieren und reisen. Und eines Tages wäre es ihr Entscheid gewesen, im Gaza-Streifen zu leben oder an einem anderen Ort der Welt. Er hingegen wollte bleiben. Es hätte ja keinen Sinn, genau jetzt Gaza zu verlassen, jetzt, wo man an diesem Ort endlich Träume verwirklichen konnte.

Staub

Seit dieser Szene mit A. sind fünf Jahre vergangen. Dutzende Male bin ich nach Gaza zurückgekehrt. Jedes Mal sah ich A. Wir haben zusammen gearbeitet. Ich habe ihn nie gefragt, was aus seinen Projekten und Träumen geworden ist. Dies war nicht nötig. Denn die Antwort liess sich aus seiner Haltung und seinen Augen ablesen.

Alles ist zu Staub geworden. Die Häuser, die seit 2005 zerstört wurden. Die Träume der Einwohner von Gaza. Und die Körper all derer, die durch Bomben getötet wurden. Staub in den Friedhöfen von Gaza.

A. fährt immer noch sein Taxi. Er hat nur eines. Geschäftsleute und Investoren hat er nicht gesehen. Der Gaza-Streifen ist geschlossen und abgeschlossen. Wie eine Gefängniszelle. Wenn A. mich sieht, lächelt er –etwas aufgesetzt. Er weiss, dass er für einige Tag Arbeit haben wird. Und viel Zeit, um mit mir über die Zeit zu sprechen, als die Einwohner wagten, wenn auch nur für einen kurzen Moment, von einem anderen und würdigen Leben zu träumen.

Gianluca Grossi wird am 1.März 1967 in Bellinzona geboren.

Er studiert vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Zürich und schliesst mit einer Doktorarbeit ab.

Danach wird er Journalist beim Schweizer Radio und Fernsehen (RSI).

Für die Tagesschau realisiert er erste Filmbeiträge im Ausland.

Im Jahr 2000 deckt er die zweite Intifada der Palästinenser ab.

2002 macht er sich als freischaffender Journalist selbständig und verlegt seinen Wohnsitz in den Nahen Osten.

Er arbeitet für RSI, aber auch für andere europäische Sender wie die BBC.

Grossi gründet seine eigene TV-Produktionsfirma Weast Productions, welche auf Nachrichtenbeiträge und Dokumentationen über den Nahen Osten spezialisiert ist.

2009 wird er zum Journalisten des Jahres der italienischen Schweiz gewählt.

Gianluca Grossi lebt zurzeit in Beirut (Libanon).

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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