Der Werdegang der Genfer Konvention
150 Jahre sind seit Solferino vergangen. Diese blutige Schlacht führte zur ersten Genfer Konvention, gefolgt von der zweiten 1949. François Buignon, Spezialist für humanitäres Recht, erklärt Anfänge und Kontext der Menschenrechts-Politik in der Schweiz, dem Depositärstaat dieser Abkommen.
François Bugnion stand 38 Jahre im Dienst des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Als selbständiger Berater kümmert er sich jetzt weiter um das internationale Völkerrecht. Beim IKRK war er zuerst Delegierter, dann Direktor für internationales Recht.
swissinfo: Worin bestehen die Eigenschaften der Genfer Konvention?
François Bugnion: Henry Dunant und die anderen Gründer des Roten Kreuzes hatten das Gefühl, etwas völlig Neues auf die Beine gestellt zu haben. Doch es gab bereits vorher Regeln, die die Gewalt während Kriegen einzuschränken versuchten. Die ältesten Regeln gehen bis in die Antike zurück.
Doch diese traditionellen Regeln galten nur im jeweilig gleichen Kulturbereich, also nur innerhalb des christlichen oder muslimischen zum Beispiel. Wenn diese beiden Welten jedoch zusammenstiessen, galten die Regeln nicht.
Deshalb bestand das wirklich Neue von Dunant und vom IKRK darin, ein Recht aufzustellen, das auf der Zustimmung der Parteien beruhte und nicht auf dem Respekt vor einem Gott. Diese Regeln, einmal in positive Rechtsnormen umgeschrieben, konnten dann universell verbreitet und angewendet werden.
So wurde aus der ersten Konvention von 1864 der Ausgangspunkt des gesamten heutigen internationalen humanitären Rechts, inklusive der Haager Abkommen von 1899 und 1907.
swissinfo: Brauchte es immer zuerst eine Katastrophe, damit das Völkerrecht weiterkam?
F.B.: Im völkerrechtlichen Bereich ist es wie in vielen anderen auch. Die Leute und auch Staaten reagieren meist auf Ereignisse, statt sie vorwegzunehmen.
Nach dem 1. Weltkrieg machte sich das IKRK sofort an die Arbeit, um die Genfer Konvention zu revidieren. Es ging um den Schutz der Kriegs- und Zivilgefangenen. Dieser Aspekt ging dann die Konvention von 1929 ein, die angenommen wurde, und Kriegsgefangene schützt. Was die Länder jedoch nicht akzeptierten, war der Miteinbezug der Zivilgefangenen. Mit dem Resultat, dass im 2. Weltkrieg sehr viele Zivilisten umkamen.
Ein Paradox des 2. Weltkriegs besteht darin, dass während dieser Auseinandersetzung unglaublich viele Gräueltaten begangen wurden, die im Holocaust ihren Höhepunkt fanden. Aber gleichzeitig gewisse Regeln respektiert wurden, wie die Behandlung der Kriegsgefangenen oder das Verbot chemischer Waffen, wie im Protokoll von 1925 erwähnt.
Ab Februar 1945 nahm das IKRK Gespräche über weitere Revisionen der Konvention auf. Dies führte 1949 zum 4. Abkommen betreffend den Schutz der Zivilpersonen und den Artikel 3 bezüglich nicht-internationaler Konflikte.
Dies als kurzen Abriss der Geschichte bis zum Beginn des Kalten Kriegs. Das IKRK war damals übrigens überzeugt, dass die Aufsplittung der siegreichen Allierten in einen kommunistischen und westlichen Block in einen 3. Weltkrieg führen werde.
Dann folgten die zahlreichen Konflikte rund um die Entkolonialisierung. Die Kriege in Indochina, Algerien, Kenia, Südafrika, Vietnam etc. bewogen die Länder, die 1949-er Konvention 1977 mit weiteren Zusatzprotokollen zu versehen.
swissinfo: Lässt sich der Einfluss des Menschenrechts auf das Verhalten von Konflikten abschätzen?
F.B.: Bei zwischenstaatlichen Konflikten, wo die Kräfte einigermassen ähnlich verteilt sind, wie zwischen Indien und Pakistan, Israel und den arabischen Ländern oder dem Golfkrieg, sind die Kriegsgefangenen meist geschützt und die Sanitätsdienste von Angriffen verschont worden.
Und dies auch dann, wenn nicht immer alle Regeln des Völkerrechts respektiert wurden.
Bei internen Konflikten jedoch, oder bei internationalen, die sich internen aufgedrängt haben, wurde das Völkerrecht nicht respektiert. Zum Beispiel im Fall von Vietnam.
Wie es bereits der preussische Kriegstheoretiker Clausewitz formulierte, ist der Krieg «ein Akt der Gewalt, wobei den Formen dieser Gewalt keine Grenzen gesetzt sind. Jeder der Gegner spielt dabei für den anderen das Gesetz. Daraus ergibt sich dann eine Gegenseitigkeit, die inhärent zu Extremen führt.»
Gegen diese Zunahme der Grausamkeiten dient das humanitäre Recht als eine Art letzter Damm. Zum Anlass der 50-Jahresfeier der Genfer Konvention hat das IKRK 20’000 Leute befragen lassen, alles ehemalige Zivilopfer oder Kriegsgefangene. Und die grosse Mehrheit gab an, dass das Völkerrecht ihr einziger Schutz gewesen sei.
Die grosse Herausforderung heute besteht darin, die neuen Formen der Gewalt in einen internatinalen juristischen Rahmen zu integrieren. Man darf sich nicht darüber beklagen, dass gewisse Akteure in Konflikten keine Regeln respektieren, wenn sie gleichzeitig als Rechtlose ausgeschlossen werden.
swissinfo: Seit wann gehören die Menschenrechte zu den Schlüsselthemen der Schweizer Diplomatie?
F.B.: Als 1864 das Comité de Genève, der Vorläufer des IKRK, die Schweiz anfragte, eine internationale Konferenz der Diplomaten einzuberufen, tat sich Bundesbern schwer damit. Glaubt man den zeitgenössischen Dokumenten, stützte sich der Bundesrat bei der Organisation der Konferenz ziemlich stark auf das Komitee.
Beizufügen wäre, dass im Komitee damals der Schweizer mit dem grössten Prestige sass, nämlich General Dufour. Dufour war der Sieger des Sonderbundkrieges und stand dem französischen König Napoléon III nahe.
Nach diesem ersten Schritt wagte sich die Schweizer Diplomatie in Sachen Verteidigung der Menschenrechte 1917 weiter vor. Gustave Ador stiess damals zum Bundesrat. Die Schweiz hatte gerade eine schwere aussenpolitische Krise hinter sich, die zur Demission seines Vorgängers Arthur Hoffmann geführt hatte. Dieser war in einen Versuch verwickelt, einen Separatfrieden zwischen Deutschland und dem revolutionären Russland herzustellen.
«Aktive Neutralität»
Als ehemaliger Präsident des IKRK übernahm Ador das Aussenministerium. Er war von Beginn an stark in die Geschehnisse des ersten Weltkriegs eingebunden und inspirierte die Gründung der internationalen Agentur für Kriegsgefangene. Ebenso war er in die Leistung von Guten Diensten eingebunden, vor allem im Bereich der humanitären Fragen.
Seine Initiativen führten 1918 zu einem deutsch-französischen Vertrag über die Verbesserung der Lebensbedingungen der Kriegsgefangenen.
Nach dem 2. Weltkrieg entwickelt Bundesrat Max Petitpierre das Konzept der «aktiven Neutralität». Dies hiess den Einbezug des Status der Schweiz als neutrales Land, um Kriegsopfern entgegen zu kommen.
Dieser Gedanke ist in jüngster Zeit auch von Micheline Calmy-Rey wiederbelebt worden.
Frédéric Burnand, Genève, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Französischen: Alexander Künzle)
1863:Erste Zusammenkunft des Komitees zur Pflege der verwundeten Soldaten. 1876 entsteht aus diesem Komitee das Internationale Komitee der Roten Kreuzes (IKRK).
1864: Abschluss der ersten Genfer Konvention
1925: Annahme des Genfer Protokolls «über das Verbot der Verwendung von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen sowie von bakteriologischen Mitteln im Kriege».
1929: Erneute Überarbeitung der ersten Genfer Konvention (39 Artikel) «zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der bewaffneten Kräfte im Felde».
1949: Neufassung der ersten Genfer Konvention als Genfer Abkommen I. Vier Konventionen, die verwundete oder kranke Soldaten an Land oder auf See, Kriegsgefangene und Zivile betrifft.
1977: Annahme der Zusatzprotokolle über Opfer von internationalen und internen bewaffneten Konflikten.
1997: Abschluss der Ottawa-Konvention «über das Verbot des Einsatzes, der Lagerung, der Herstellung und der Weitergabe von Antipersonenminen und über deren Vernichtung».
1998 Annahme des Rom-Statutes «für den Internationalen Strafgerichtshof»
2008: Annahme der Streubomben-Konvention.
Depositar: Der Depositar eines völkerrechtlichen Vertrages ist ein Staat, dem die an dem Abkommen beteiligten Vertragspartner die treuhänderische Verantwortung für die mit der Durchsetzung des Vertrages verbundenen Aufgaben übertragen haben.
Schweiz – Genfer Konvention: Die Schweiz ist Depositärstaat für die Genfer Konvention. Die USA beispielsweise sind Depositar der Charta der Vereinten Nationen, Italien ist Depositar des Vertrags über die Europäische Union.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch