Der wilde Schweizer Wald wächst
In der Schweiz breitet sich der Wald immer stärker aus. Besonders stark betroffen ist die Alpensüdseite. Das kantonale Forstamt im Tessin verfolgt die Entwicklung mit Sorge, genauso wie die Umweltkommission des Ständerats.
Kreisförster Romano Barzaghi steht in einem Kastanienhain über dem Tessiner Dorf Cademario in der Region Malcantone. Er zeigt auf den gegenüberliegenden Hügel, den 931 Meter hohen Monte Montaggio: «Während des Zweiten Weltkriegs war dieser Hügel ein riesiger Kartoffelacker, heute ist er nur noch Wald.»
Damals war die Schweiz in Europa isoliert; Nahrungsmittel waren knapp und mussten im eigenen Land produziert werden. Längst wird der Bedarf mehrheitlich über Importe gestillt. Nur noch wenige Einwohner des Malcantone betreiben Landwirtschaft. Man fährt zur Arbeit ins Finanzzentrum Lugano oder das Industriegebiet von Manno.
Der Prozess einer zunehmenden Vergandung der Flanken an Hügeln und Bergen ist in vollem Gang. «In einigen Jahrzehnten – auch in Folge der Klimaerwärmung – wird der Wald wohl auch die ganz hohen Lagen erreicht haben», sagt Barzaghi und zeigt auf die Bergkette, die vom Monte Lema zum Monte Tamaro führt. Noch sind dort Bergwiesen zu sehen.
Weniger Landwirtschaft, mehr Wald
Die Entwicklung im Malcantone ist durchaus typisch für den Kanton Tessin, aber auch für Täler wie das südbündnerische Misox. Der Wald erobert seit Jahrzehnten unaufhörlich Terrain in mittleren und höheren Lagen zurück.
Wo einst Berglandwirtschaft betrieben wurde, schliessen sich die Waldflächen. «Einwachsende Waldflächen» nennt man dieses Phänomen im Fachjargon. Im Onsernonetal beispielsweise hat der Wald schon fast das ganze Tal erobert. «Die Dörfer dort sind vom Wald mittlerweile regelrecht umzingelt», sagt Andreas Lack vom Fonds Landschaft Schweiz.
In Folge der Einstellung der Landwirtschaft wachsen Alpwirtschaftsflächen zuerst mit Gebüsch- und Strauchvegetation ein. Später entsteht Wald. Und wenn Wald entstanden ist, untersteht dieser gemäss Waldgesetz strengen Regeln wie dem Rodungsverbot. Falls doch gerodet wird, muss grundsätzlich Realersatz durch die Aufforstung einer gleich grossen Fläche geschaffen werden.
Gesetze gegen Raubbau
Diese Regeln haben ihre historische Erklärung. Denn bis ins 19.Jahrhundert war der Holzhunger in der Schweiz gross; der damalige Raubbau am Wald führte zu Überschwemmungen mit katastrophalen Folgen.
Erst durch das Forstpolizeigesetz von 1876 wurde eine Walderhaltungspolitik eingeführt. Gleichzeitig ging die Bedeutung des Waldes als Ressource für Tierhaltung oder als Brennstoff zum Heizen zurück. Die Folge: Seither breitet sich der Wald wieder aus.
«Das Problem der zunehmenden Waldflächen ist im Grunde eher eine Angelegenheit der Landwirtschaftspolitik oder Raumplanung; das Waldgesetz kann zur Lösung nicht viel beitragen», sagt Daniel Landolt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Waldpolitik im Bundesamt für Umwelt (Bafu). Um ein Einwachsen aufzuhalten, müssten Bewirtschafter ermuntert werden, die Beweidung von Bergwiesen weiterzuführen.
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Kanton Schaffhausen
Tatsache ist: Heute sind 31 Prozent der Schweiz bewaldet. Zwischen 1993/95 und 2004/07 hat die Waldfläche im Alpenraum um fast zehn Prozent zugenommen. Dies entspricht einer Zunahme von 33’500 Hektaren beziehungsweise einer Fläche in der Grösse des Kantons Schaffhausen. Im Tessin sind mittlerweile 51 Prozent der Kantonsfläche bewaldet, im Malcantone sogar 70 Prozent.
Die Landschaft wird dadurch monotoner und verliert an Attraktivität, auch für Feriengäste, die gerne freie Ausblicke geniessen. Zudem geht die Biodiversität zurück. Während der zunehmende Wald für Wildtiere wie Hirsche oder Wildschweine ein Segen ist, stellt der Mangel an freien Flächen für bestimmte Vogelarten oder Schmetterlinge eine Bedrohung ihres Lebensraumes dar.
«Die Ausbreitung des Waldes besorgt uns, aber man kann sehr wenig dagegen tun», meint der Tessiner Kantonsförster Roland David. Immerhin: Im Malcantone versucht man beispielsweise, mit der Einrichtung von einigen Kastanienhainen die Vergandung ein wenig aufzuhalten. Doch es sind aufwändige und teure Projekte.
Schafe auf die Weide
Bei Cademario hat die lokale Bürgergemeinde die Einrichtung des Kastanienhains Squillin finanziell unterstützt. Das Terrain muss dafür teils gerodet werden. Die verbliebenen und neu angepflanzten Kastanien gleichen einem Hain an Obstbäumen. Ein Bauer bringt jetzt Schafe zum Weiden. Dafür erhält er eine Entschädigung. Doch der Einsatz lohnt sich. «Touristen und Einheimische schätzen diese Haine sehr», sagt Rudy Vanetta, Präsident des Patriziats Cademario.
Eine weitere Variante, mit dem überbordenden Wald umzugehen, ist eine Erhöhung des Holzschlags. Zur Zeit werden im Tessin zirka 60’000 Kubikmeter Holz pro Jahr geschlagen. Der kantonale Forstplan sieht vor, das Volumen in 10 Jahren auf 150’000 Kubikmeter zu erhöhen.
Dies geht einher mit der steigenden Nachfrage nach Holz als einheimischer und erneuerbarer Energiequelle. Aber wird dann der Wald nicht leer geholzt, wie der WWF befürchtet? «Auf keinem Fall», erwidert Kantonsförster David, «denn pro Jahr wachsen im Tessin 500’000 Kubikmeter Holz nach.»
Initiative im Ständerat
Die Zunahme der Waldflächen ist auch in Bundesbern ein Thema. Ende Juni hat die Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie des Ständerats eine parlamentarische Initiative eingereicht, in der gefordert wird, geeignete Instrumente zu schaffen, mit denen eine weitere, unerwünschte Ausdehnung der Waldfläche eingeschränkt werden kann.
Dabei soll die Gesamtwaldfläche nicht reduziert werden und auch am Grundsatz des Rodungsverbots festgehalten werden. Doch in Gebieten mit Zunahme der Waldfläche soll in begründeten Fällen auf Rodungsersatz verzichtet werden können.
Gerhard Lob, Cademario, swissinfo.ch
Es kann als Widerspruch erscheinen: Einerseits wuchert der Wald, auf der anderen Seite werden Waldreservate eingerichtet.
Hintergrund dieser Politik ist es, Gebiete zu schaffen, in denen für Jahrzehnte garantiert werden kann, dass keine menschlichen Eingriffe erfolgen. Denn die steigende Nachfrage aus der Holzwirtschaft könnte beispielsweise dazu führen, dass schon lange nicht mehr genutzte Waldgebiete dereinst wieder interessant werden.
Die Schweiz hat in den letzten Jahrzehnten gut 800 Waldgebiete zu Reservaten erklärt. Bei den meisten handelt es sich um Naturwaldreservate: Der Wald wird vollständig sich selber überlassen. Hinzu kommen die Sonderwaldreservate, in denen gefährdete Arten oder spezielle Nutzungsformen gezielt gefördert werden.
Die meisten Waldreservate sind nur einige Hektaren gross. Insgesamt machen sie 3,2 Prozent der Waldfläche aus – das ist wenig im europäischen Vergleich. Bis 2030 will die Schweiz 10 Prozent der Waldfläche schützen.
Lange schrieb die Waldwirtschaft rote Zahlen. Seit 2003 ist Holz wieder gefragter. Pro Jahr werden in der Schweiz etwa 5,5 Mio. m2 Holz geschlagen; dies entspricht etwa 80% der Holzmenge, die jährlich nachwächst. In der Wald- und Holzwirtschaft arbeiten zurzeit etwa 75’000 Menschen.
Mit einem Anteil von 95% sind Fichte und Tanne der wichtigste Rohstoff für die Schweizer Sägereien: 2008 wurden 406’000m2 gesägtes rohes Nadelholz ins Ausland verkauft, aber nur 122’000m2 importiert.
2008 nahm die im Schweizer Wald geerntete Holzmenge indes um 7,5% auf 5,3 Mio. m2 ab. Dies geht aus der Forststatistik 2008 der Bundesämter für Statistik BFS und für Umwelt BAFU hervor. Die Fachleute beurteilen diesen Rückgang jedoch nur als Knick in einem langfristigen Trend einer zunehmenden Holznutzung.
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