Deutschland kann mehr Direkte Demokratie wagen!
Der Schweizer Politologe Andreas Gross plädiert für einen Ausbau der direkten Demokratie in Deutschland. Regierung und Parlamentarier müssten "viel mehr in die Gesellschaft hineinhören", und die Bürgerinnen und Bürger ermutigt, sich als politisch Handelnde und Gefragte "mit der Politik" zu versöhnen.
Wer für die Erweiterung der indirekten (repräsentativen) Demokratie um direktdemokratische Elemente plädiert, will weder schweizerische Verhältnisse nach Deutschland tragen, noch dem Populismus frönen, die Privilegierten privilegieren oder gar die repräsentative Demokratie aushebeln.
Ganz im Gegenteil: In Deutschland würde die direkte Demokratie sehr viel überzeugender funktionieren als in der Schweiz; Populisten hätten es schwerer, weil in der Direkten Demokratie weniger pauschal und sachnaher argumentiert werden muss und die repräsentative Demokratie würde gestärkt, weil Unrecht und Vernachlässigte viel weniger übersehen und besser vertreten werden könnten im Bundestag (Volkskammer).
Der Politikwissenschaftler und Historiker ist seit 1991 Mitglied der sozialdemokratischen Fraktion im Schweizer Parlament (Volkskammer).
Seit sieben Jahren ist er zudem Fraktionsvorsitzender der Sozialdemokraten in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates.
Der Zürcher gründete vor über 25 Jahren das private wissenschaftliche Institut für Direkte Demokratie, das er heute noch leitet.
Gross war zwischen 1992 und 2013 Lehrbeauftragter für Direkte Demokratie an den deutschen Universitäten Marburg, Speyer, Trier, Jena und Hamburg.
Wer für den Einbau von direktdemokratischen Elementen plädiert, möchte die Macht besser verteilen, die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger vergrössern, deren Entfremdung zur Politik abbauen und die Lernfähigkeit der Gesellschaft stärken. Wobei Macht nicht im Geiste von Max Weber negativ verstanden wird, sondern mit Hannah Arendt positiv: Als Fähigkeit von gemeinsam handelnden Menschen, ihr Lebensumfeld mitzugestalten und nicht einfach als «Schicksal» erfahren zu müssen.
«In Deutschland würde die Direkte Demokratie sehr viel überzeugender funktionieren als in der Schweiz.»
Andreas Gross
Mehr Freiheit wird gewagt, weil der aktive Moment der Demokratie nicht auf die Wahl beschränkt ist, sondern diese auch zwischen den Wahlen im Hinblick und beim «Volksentscheid» wahrgenommen werden kann. Wenn also die demokratischen Momente der gemeinsamen Entscheidung vermehrt werden, Bürgerinnen und Bürger weit öfter verbindlich entscheiden, dann muss ungleich intensiver und häufiger diskutiert, nachgedacht und vor allem zugehört werden – all die Stoffe, aus denen individuelle und kollektive Lernprozesse gewoben werden, also genau das, was unsere Gesellschaft am nötigsten hat.
Das waren auch die Gründe, weshalb Liberale von Johann Jacoby bis Hildegard Hamm-Brücher, Grüne von Petra Kelly bis Winfried Kretschmann und Sozialdemokraten von Wilhelm Liebknecht, Friedrich Albert Lange, Wilhelm Hoegner bis Herbert Wehner und Jochen Vogel die Stärkung der indirekten Demokratie durch direktdemokratische Elemente befürwortet haben. So meinte Herbert Wehner lange vor 1968 in einem weniger oft zitierten Satz seiner berühmten Rede am Godesberger SPD-Parteitag von 1959: «Es kam und kommt darauf an, den Staat wirklich bis in die letztmöglichen Konsequenzen zu demokratisieren und für die politische Demokratie feste Fundamente durch die Verankerung der Demokratie im Wirtschaftsbereich und im Sozialen zu schaffen”.
Feine Austarierung
Wer freilich die Güte der Direkten Demokratie realisieren will, muss deren Rechte und Verfahren sehr sorgfältig verfassen und die Schnittstellen zwischen direkter und indirekter Demokratie sowie zwischen Grundrechtsschutz und Partizipation, das heisst zwischen Verfassungsschutz und Verfassungs- bzw. Gesetzesrevision, sorgsam ausgestalten, so dass – Freiheit, Rechtstaat und Demokratie sind keine Nullsummenspiel, sondern leben von- und miteinander –, alle drei in ihrem Bezugsfeld gestärkt werden.
Dazu gehört erstens die Ausdifferenzierung der direktdemokratischen Mitwirkungsformen, deren sorgfältige prozedurale Ausgestaltung und Einbettung ins Ensemble der Demokratie. So gilt es zu unterscheiden zwischen dem Nachfragerecht der Bürgerinnen und Bürger zu dem, was in ihrem Namen im Parlament beschlossen worden ist. Das wäre in helvetischer Diktion das Gesetzesreferendum, das innert 100 Tagen von einem Prozent der Wahlberechtigten verlangt werden kann, worauf der Volksentscheid nach etwa sechs Monaten erfolgt. Erachtet das Parlament eine Gesetzesrevision als dringlich, so kann es eine solche mit einem qualifizierten Mehr beschliessen; das Gesetz tritt dann sofort in Kraft vorbehältlich eines möglicherweise negativen Volksentscheids, wonach es sofort wieder aufgehoben würde.
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Das andere grosse Mitwirkungsrecht der Bürgerschaft ist das Initiativrecht. Damit kann jederzeit eine Verfassungs- oder Gesetzesrevision beantragt werden. Hier sind sowohl für die Sammlung der Unterschriften als auch für die Beurteilung durch Verwaltung und der Regierung sowie der Interessensorganisationen, der Zivilgesellschaft und schliesslich der grossen Öffentlichkeit mehr Zeit einzuräumen. Genau dies lässt sich aus den US-amerikanischen Erfahrungen mit der Direkten Demokratie lernen: Je grosszügiger die Behandlungsfristen angesetzt werden, desto inklusiver sind die ausgelösten Deliberationsprozesse und desto häufiger sind direkte oder indirekte Nebenwirkungen. Zur feinen Ausgestaltung der Schnittstelle zwischen repräsentativer und unmittelbarer Demokratie gehört das Recht der Parlamentsmehrheit, einer Volksinitiative aus der Bürgerschaft zum gleichen Problem einen parlamentarischen Gegenvorschlag gegenüberstellen zu können, wobei dann im Volksentscheid die Bürgerinnen und Bürger zwischen drei Optionen – keine Reform, Reform gemäss Bürgerinitiative oder Reform gemäss Parlamentsalternative – entscheiden und ihre Präferenz ausdrücken können.
Schliesslich kann im Rahmen der direktdemokratischen Erweiterung der parlamentarischen Demokratie eine Art Antragsrecht der Bürgerschaft ans Parlament eingerichtet werden; ein solcher Bürgerantrag würde ähnlich behandelt wie ein parlamentarischer Vorstoss und hätte keinen automatischen Volksentscheid zur Folge.
Korrektur
Entscheidend für eine bürgernäheres Machtgleichgewicht ist aber die Möglichkeit einer kleinen, aber noch repräsentativen Minderheit der Bürgerinnen und Bürger, jederzeit und auch gegen den Willen von Regierung oder Parlamentsmehrheit einen Volksentscheid zu Bundestagsbeschlüssen oder Gesetzesrevisionen auslösen zu können. Dieses Wissen verändert die politische Kultur. Regierung und Parlamentarier müssen viel mehr in die Gesellschaft hineinhören, viel mehr Überzeugungsanstrengungen auf sich nehmen, Widerspruch antizipieren und die Vorlagen so sorgfältiger austarieren, dass sie weniger Widerstand provozieren.
Eine solche Demokratisierung der deutschen Demokratie würde viele deutsche Bürgerinnen und Bürger ermutigen, sich als politisch Handelnde und Gefragte «mit der Politik» zu versöhnen. Das schafft neue Identifikationen und mehr Freiheit für alle erweist sich paradoxerweise als Integrationsfaktor moderner, vielfältiger und grosser Gesellschaften; ganz im Sinne Friedrich Dürrenmatts, der zur Schweiz mal meinte, die Schweizerinnen und Schweizer blieben trotz allen Verschiedenheiten gerne zusammen, weil man sie alle vier Monate über ihre Differenzen streiten lässt. Es müsste ja in Deutschland nicht unbedingt alle vier Monate sein, aber drei Volksentscheide pro Jahr wären für Land und Leute ein Segen.
(Dieser Beitrag erschien in: «Das Parlament», Zeitung des deutschen Bundestages vom 21. September 2014).
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