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Dialog mit der Türkei wieder verstärken

Der türkische Premier Recep Erdogan mit Bundespräsident Joseph Deiss, am WEF in Davos im letzten Januar. Keystone

Eine Delegation des Schweizer Parlaments besucht die Türkei, um den bilateralen Beziehungen neuen Aufschwung zu geben.

Im Herbst 2003 hatte die Türkei aufgrund der in der Schweiz über den Völkermord an Armeniern geführten Debatte eine Visite der Schweizer Aussenministerin annulliert.

Als «Affront» oder «Provokation» hatten politische Repräsentanten der Schweiz den Entscheid der Türkei vor einem Jahr bezeichnet, den Besuch der Schweizer Aussenministerin Micheline Calmy-Rey abzusagen.

Ihr Departement für äussere Angelegenheiten (EDA) hatte sich zurückgehalten und den Entscheid der türkischen Behörden als «exzessiv» bezeichnet.

Grund für die Irritationen der Türkei war einmal mehr die Diskussion um die Anerkennung des Genozids an den Armeniern. Diese Frage war in den Augen der Türkei in den letzten Jahren in der Schweiz zu oft aufs Tapet gebracht worden sei.

Zwischen 800’000 und 1,8 Millionen Armenierinnen und Armenier waren laut Historikern zwischen 1915 und 1918 im damaligen Ottomanischen Reich systematisch vertrieben oder umgebracht worden.

Diplomatische Mini-Krise

Während die Türkei immer von «nur» 200’000 Toten während Kriegshandlungen spricht und einen Völkermord verneint, wurde dieser im Kanton Genf erstmals 1998 vom Parlament anerkannt.

2001 hatte der Nationalrat ein Postulat in dieser Richtung zurückgewiesen – wenn auch nur mit drei Stimmen Unterschied.

Ende September 2003 anerkannte das Waadtländer Parlament den Genozid ebenfalls. Nur wenige Tage darauf lud die türkische Regierung Micheline Calmy-Rey aus und löste damit eine diplomatische Krise aus, die das Verhältnis zwischen den beiden Ländern wesentlich abgekühlt hat.

Auch Nationalrat anerkannte den Genozid

Im Dezember 2003 anerkannte schliesslich auch der Nationalrat den Genozid.

Ein Entscheid, der im Januar darauf am Weltwirtschaftsforum in Davos vom türkischen Premierminister Recep Erdogan bedauert wurde, als dieser sich kurz mit Micheline Calmy-Rey und Bundespräsident Joseph Deiss traf.

Der nach der zurückgezogenen Einladung 2003 jetzt neu geplante Besuch der Mitglieder der Aussenpolitischen Kommission des Ständerats kann nun als wichtiger Schritt erachtet werden, um zwischen den beiden Ländern den Dialog zu erneuern und die Beziehungen zu verbessern.

Hoffnung auf geglättete Wogen

«Letztes Jahr haben wir es vorgezogen, auf die Reise in die Türkei zu verzichten, da die bilateralen Beziehungen angespannt waren. Wir hätten keine dialogbereiten türkischen Partner gefunden», erklärt Peter Briner, Präsident der Kommission und Delegationsverantwortlicher.

«Inzwischen haben sich dank dem zeitlichen Abstand die Wogen etwas glätten können. Unsere Kollegen vom türkischen Parlament und der Botschafter in Bern versichern uns, dass wir in der Türkei willkommen sind.»

Vom 30. August bis zum 3. September wird die Schweizer Delegation also in Ankara von diversen hochrangigen Repräsentanten und Regierungsvertretern empfangen, unter ihnen auch von Aussenminister Abdullah Gül.

Wirtschaftliche und technische Zusammenarbeit

Im Zentrum der Gespräche stehen vor allem die wirtschaftliche und technische Zusammenarbeit. Doch auch die Frage der Respektierung von Minderheiten und Menschenrechten in der Türkei wird aufs Tapet kommen.

«Wir möchten auf die Reformen eintreten, die die Türkei einzuführen denkt, und die Schritte, die sie bereits unternommen hat, was ihre Vorbereitungen auf ihren Beitritt zur EU betrifft», fügt Briner bei.

Gegensätzliche Interessen – auch in der Schweiz selbst

Laut dem Kommissionspräsidenten wolle die Schweiz nicht nochmals auf die brenzlige Frage des Genozids an den Armeniern eintreten, die auch heute noch in der Türkei ein Tabu darstelle.

«Wir möchten nicht aus einer moralisierenden Haltung heraus diese schreckliche historische Periode verurteilen. Das ist Sache der Historiker. Es liegt an jedem Land selbst, sich mit seiner eigenen Vergangenheit auseinander zu setzen», sagt Briner.

Briners Meinung dürfte wahrscheinlich von vielen Parlamentskolleginnen und –kollegen nicht geteilt werden. Die Debatte im Nationalrat vom vergangenen Dezember zeigte zwei gegensätzliche Sichtweisen von Aussenpolitik auf.

Einerseits die Sichtweise, wonach sich die Eidgenossenschaft vor allem für Menschen- und Minderheitsrechte engagieren soll. Besonders nachdem die Schweiz vor wenigen Monaten dem Internationalen Strafgerichtshof ICC beigetreten ist, der als neue weltweite Instanz dazu aufgerufen ist, über Genozidvorwürfe zu urteilen.

Schweiz ist sechstgrösster Investor in der Türkei

Andererseits die Sichtweise, dass der Dialog aufrecht erhalten und die Beziehungen zu einem wichtigen Wirtschaftspartner nicht aufs Spiel gesetzt werden sollen.

Im vergangenen Jahr figurierte die Schweiz als sechstgrösster Investor in der Türkei. Für die Türkei wiederum ist die Schweiz siebtgrösste Exportabnehmerin, mit Ausfuhren in der Grössenordnung von 1,6 Mrd. Franken.

Die Vertreter der Armenier in der Schweiz begrüssen den Besuch der Kommission in der Türkei, auch wenn vielleicht nicht alle heiklen Fragen erörtert würden.

«Falls der Dialog nicht auf Lügen aufbaut, ist die Suche nach dem Gespräch wesentlich für den Aufruf an die Türkei, ihre sperrige Haltung in dieser Frage aufzugeben, die sie seit je her gehabt hat», sagt Sarkis Shahinian, Vizepräsident der Gesellschaft Schweiz-Armenien.

Und der Moment für eine Änderung der Haltung erscheint jetzt speziell günstig, angesichts der Ambitionen der Türkei auf EU-Mitgliedschaft und auf eine Schlüssel- und Brückenposition im westlich-mittelöstlichen Dialog.

«Der Zeitpunkt ist gekommen für die Türkei, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen und endlich die Menschenrechte zu beachten, was für einen EU-Beitritt unerlässlich ist», sagt Shaninian.

swissinfo, Armando Mombelli
(Übertragung aus dem Italienischen: Alexander Künzle)

Vom 30. August bis zum 3. September weilt eine Delegation der aussenpolitischen Kommission des Ständerats auf Besuch in der Türkei.

Ziel der Reise ist die Wiederaufnahme der Beziehungen mit den türkischen Behörden, die seit rund einem Jahr unterkühlt sind.

In der Schweiz leben rund 80’000 Türken und rund 6000 Personen armenischen Ursprungs.

An den ausländischen Investitionen gemessen, ist die Schweiz für die Türkei das sechstwichtigste Land; 2003 hatten sich die Investitionen auf über eine Milliarde Franken belaufen.

An den türkischen Exporten gemessen, ist die Schweiz Nummer 7, mit 1,6 Mrd. Franken.

Zwischen 1915 und 1918 sind in den Endwirren des Ottomanischen Reichs zwischen 800’000 und 1,8 Mio. Armenier umgebracht oder vertrieben worden.
Die Türkei hat diesen Genozid immer in Abrede gestellt.
Der Genozid ist in den letzten Jahren von den Parlamenten von 15 Ländern, darunter USA, Russland, Frankreich und Italien als solcher bezeichnet worden.
Am 16. Dezember 2003 hat auch das Schweizerische Parlament im Nationalrat diesen Genozid als solchen bezeichnet.

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