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Dick Marty, der Wahrheitssucher im Europarat

Dick Marty im Europarat: stiller Schaffer, grosse Wirkung. swissinfo.ch

Seit über 10 Jahren sitzt er im Europarat und hat kein bisschen an Beharrlichkeit eingebüsst. Denn für Dick Marty, Schweizer "Hüter der Menschenrechte", gibt es noch viel zu tun in Europa und der Schweiz. swissinfo.ch unterwegs mit ihm in Strassburg.

Dick Marty sitzt im riesigen Plenarsaal auf Platz 243 und diskutiert mit Nummer 242, einem französischen Abgeordneten. Sitz 244 ist leer.

Im Strassburger Parlament sitzen weder die Fraktionen noch die Nationen zusammen; die Abgeordneten sind in alphabetischer Reihenfolge platziert.

Dies ermöglicht oder erzwingt das Gespräch zwischen Leuten aller Länder und politischer Couleur. Eine gute Sache, findet Marty.

Die Europarats-Versammlung trifft sich vier Mal im Jahr, wie jetzt Ende Januar 2010. Parlamentarier aus allen Ecken Europas treffen im «Palais de l’Europe» ein.

Marty ist ein bekanntes Gesicht und hoch geschätzt: Hier ein kurzer Wortwechsel auf Englisch, da ein «Bonjour» oder «Ciao», dort ein herzliches Händeschütteln.

«Nein, müde bin ich nicht, aber es gibt eine gewisse Routine wie bei jeder Tätigkeit. Die Arbeit bleibt jedoch faszinierend, da es auf diesem Kontinent immer neue Herausforderungen und Spannungen gibt», sagt Marty, der die Schweiz in der parlamentarischen Versammlung des Europarats vertritt, im Gespräch mit swissinfo.ch. Man könne auch viele Fortschritte sehen, so zum Beispiel in den osteuropäischen Ländern.

Als dramatisch wertet der FDP-Ständerat aus dem Kanton Tessin den Konflikt zwischen Russland und Georgien, der 2008 zu einem Krieg zwischen zwei Mitgliedstaaten führte. «In diesen Konflikt investieren wir ziemlich viel Energie.» Dazu komme die Lage im Nordkaukasus. «Auch wenn die Presse wenig darüber berichtet, verschwinden dort jeden Tag Menschen oder werden getötet.»

Die Wahrheit – sein Label

Der freisinnige Vollblut-Politiker gilt in Strassburg als hartnäckiger Verfechter der Menschenrechte. So kritisiert er immer wieder scharf, dass der Kampf gegen den Terrorismus als Vorwand genommen werde, um gewisse Freiheiten und Grundrechte der Bürger einzuschränken. Weit herum bekannt und aufsehenerregend sind seine Berichte über die CIA-Gefängnisse und geheimen Überflüge in Europa.

Immer will er der Wahrheit auf den Grund gehen. Wahrheit ist für ihn ein Grundrecht, die Voraussetzung für Demokratie. «Schon als Staatsanwalt war die Aufklärung von Taten für mich wichtiger als die Bestrafung der Leute.» Denn die Wahrheit fördere das Zusammenleben einer Gesellschaft. «Mit Lügen stiftet man nur Misstrauen.»

Die Türkei und die Schweiz

Die diesjährige Januar-Session ist der Auftakt zu einem spannenden Jahr: Erstmals steht der Versammlung ein türkischer Präsident vor. Den Vorsitz hat die Schweiz. Beide Länder sind nicht Mitglied der EU, und dies ausgerechnet in einem Jahr, in dem die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und dem Europarat infolge des Lissaboner Vertrags enger wird.

Der eben gewählte türkische Präsident Mevlüt Cavusoglu macht sich in seiner Antrittsrede für die Wahrung der Menschenrechte in Europa stark und verurteilt Rassismus und Intoleranz. Migration müsse nicht als Bedrohung, sondern auch als Chance wahrgenommen werden.

Getrübtes Schweizer Image

Am Nachmittag spricht die Schweizer Aussenministerin als Präsidentin des Ministerrats. Neben den Schwerpunkten, welche sich die Schweiz für ihr halbjähriges Präsidium gesetzt hat, thematisiert Micheline Calmy-Rey auch das Ja des Schweizer Souveräns vom 29. November für ein Bauverbot von Minaretten. Es handle sich nicht um ein Votum gegen die Muslime, betont Calmy-Rey. Die Schweiz setze weiterhin auf Dialog und Integration der muslimischen Bevölkerung.

Dick Marty verfolgt die Rede aufmerksam und beurteilt sie später als gut, sauber und politisch korrekt. Klug sei vor allem gewesen, dass sie die Anti-Minarett-Initiative in ihre Rede eingebunden habe und damit in die Offensive gegangen sei.

Die Enttäuschung nach dem Abstimmungsresultat von Ende November war laut Marty auch im Europarat gross. «Bislang hat man sich das Schweizer Volk als vernünftig, zurückhaltend und nicht extremistisch vorgestellt. Diese Bild ist jetzt getrübt.»

Er werde tagtäglich darauf angesprochen, wo immer er sei. So kürzlich in der Türkei. «Und sogar im nicht-muslimischen Kongo, wo ich vor Weihnachten war, sprach mich der Taxifahrer am Flughafen auf die Minarett-Geschichte an.»

Die Zeit, die Marty in Strassburg verbringt, ist hektisch. «Man lebt von morgens früh bis abends spät in diesem Haus. Man isst hier, es gibt Fraktions- und Kommissionssitzungen, viele Treffen mit Kollegen, NGOs, mit Vertretern verschiedener Bewegungen, die ihre Anliegen vorstellen wollen.»

Bern weiss nicht, was wir tun

Es gebe aber auch Abgeordnete, welche «die Sache eher touristisch nehmen», sagt Marty. «Gewisse italienische Kollegen trifft man abends spät im Restaurant in der Stadt, aber nicht im Europarat.»

Es bestehe aber ein harter Kern, der sehr viel arbeite. «Und dazu gehört die Schweizer Delegation. Sie ist seit je eine der aktivsten. Das ist allgemein bekannt und anerkannt.»

Weniger anerkannt scheint die Arbeit der Schweizer Europarat-Parlamentarier in Bern zu sein. «Die meisten unserer Kollegen im Bundeshaus verstehen nicht, was wir hier machen. Es gibt zur Zeit eine nicht so grosse Empfindsamkeit gegenüber den Menschenrechten und dem Schutz von Minderheiten», bedauert Marty.

Er habe den Eindruck, dass sich die Schweizer Politik nur mit Alltäglichem beschäftige und eine langfristige Vision verloren habe. «Langzeit-Perspektiven sollten jedoch eine absolut notwendige Voraussetzung der Politik sein.»

Gaby Ochsenbein, Strassburg, swissinfo.ch

1945: Geboren in Lugano

1975: Promotion als Jurist in Neuenburg

1975-1989: Staatsanwalt

1989-1995: Regierungsrat

1995: Wahl in den Ständerat für die FDP.

Seit 1998: Abgeordneter im Europarat.

Von 2005-2007: Sonderermittler des Europarats zu umstrittenen CIA-Gefangenentransporten und geheimen Gefängnissen in Europa.

Berichterstatter für den Nordkaukasus.

Präsident der Monitoring-Kommission.

Mitglied der Kommission Recht und Menschenrechte.

Präsident der Subkommission Kriminalität und Terrorismus.

Mitglied der Politischen Kommission.

Die Schweiz hat vom 18.11.2009 bis 11.5.2010 den Vorsitz im Ministerkomitee, dem Exekutivorgan des Europarates, inne.

Sie trat dem Europarat am 6. Mai 1963 als 17. Mitgliedstaat bei.

Seit 1968 verfügt sie über eine ständige Vertretung in Strassburg. Gegenwärtiger Botschafter ist Paul Widmer.

Die Schweiz bezahlt pro Jahr 2,1750% des Budgets des Europarats, das sind 6,2 Mio. Euro.

Die Schweizer Delegation in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats besteht aus 12 National- und Ständeräten.

Schweizer Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist seit Januar 2007 Giorgio Malinverni.

Er wurde 1949 von 10 westeuropäischen Ländern (Belgien, Dänemark, Frankreich, Grossbritannien, Irland, Italien, Luxemburg, Norwegen, Schweden, Niederlande) als zwischenstaatliche Organisation zum Schutz der Menschenrechte gegründet.

Der ständige Sitz ist in Strassburg, Frankreich. Der Palais de l’Europe wurde 1977 eingeweiht.

Heute zählt der Rat über 636 Abgeordnete aus 47 Mitgliedstaaten mit insgesamt 800 Millionen Menschen. Dazu kommen rund 2000 administrative Mitarbeiter.

Alle europäischen Staaten sind dabei, ausser der Vatikan, Weissrussland und Kosovo. Hinzu kommen fünf Beobachterstaaten (Vatikan, USA, Kanada, Japan, Mexiko).

1950 wurde die Europäische Menschenrechts-Konvention verabschiedet.

Der Europäische Menschenrechts-Gerichtshof soll sicherstellen, dass die Menschrechte in den Mitgliedstaaten eingehalten werden.

Der Europarat hat bislang rund 200 Konventionen verabschiedet, so etwa zur Verbesserung der internationalen Rechtshilfe, zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens, der Abschaffung der Todesstrafe, des Menschenhandels oder der Folter.

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