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Dick Marty geisselt internationale Untätigkeit

Kosovo-Albaner schauen sich in der Hauptstadt Pristina die Pressekonferenz von Dick Marty in Paris an, wo er seinen Bericht mit den schweren Vorwürfen an die Führung Kosovos präsentierte. Keystone

Der Europarats-Abgeordnete Dick Marty hat die Mafiavorwürfe gegen Kosovo-Ministerpräsident Hashim Thaci bekräftigt. Mit seinem Bericht habe er zeigen wollen, "dass Verbrechen begangen wurden, die bis heute ungestraft geblieben sind", sagte Marty in Paris.

Der Tessiner FDP-Ständerat übt in seinem Bericht harsche Kritik an der internationalen Staatengemeinschaft, die aus Rücksicht auf politische Stabilität die Verfolgung von Verbrechen durch kosovarische Einheiten unterlassen habe.

Thaci und andere ehemalige Führer der kosovarischen Befreiungsarmee UCK sollen nach dem Kosovo-Krieg Ende der 90er-Jahre in einen Handel mit Organen von vorher getöteten serbischen Gefangenen und in Drogengeschäfte verwickelt gewesen sein.

Die EU, die USA und die UNO hätten von den Verbrechen der UCK gewusst, jedoch aus Sorge um die kurzfristige Stabilität Kosovos die Augen verschlossen. Deshalb seien sie mitschuldig. Dies schreibt Dick Marty in seinem Bericht, der am Donnerstag in Paris den Medien vorgestellt wurde.
 
Laut dem Sonderberichterstatter des Europarats hat die diplomatische und politische Unterstützung der USA und anderer westlicher Länder dem Regierungschef des Kosovo, Hashim Thaci, nach dem Kosovokrieg den Eindruck gegeben, «unberührbar» zu sein.

Zu starres Täter-Opfer-Schema

Der Krieg sei allzu starr auf die schemenhafte Vorstellung eines serbischen Täters und eines unschuldigen kosovo-albanischen Opfers reduziert worden, ungeachtet einer weit komplexeren Realität, so Marty weiter.

Auf Fragen nach Beweisen für seine Behauptungen sagte der frühere Tessiner Staatsanwalt: «Wenn man danach sucht, dann wird man auch fündig.» Vorwürfe über verbrecherische Handlungen und Menschenrechtsverletzungen seien bekannt gewesen. «In Privatgesprächen wurde das zugegeben, doch aus politischen Gründen hat man es vorgezogen, zu schweigen.»

Kritik auch von Andreas Gross

Auch der Schweizer Europarats-Abgeordnete und SP-Nationalrat Andreas Gross kritisierte am Donnerstag die Untätigkeit der westlichen Staaten. Der Bericht Martys zeige, dass die UNO und die EU-Mission EULEX aus politischem Pragmatismus nicht gehandelt hätten.

Und dies trotz der schweren Vorwürfe, die bereits von der ehemaligen Chefanklägerin des UNO-Kriegsverbrechertribunals, Carla del Ponte, vorgebracht worden seien, sagte Gross.

Auch der Nachfolger von del Ponte beim Kriegsverbrechertribunal, Serge Brammertz, habe «die Aufgabe nicht wahrgenommen», kritisierte Gross. Nun müsse auch das UNO-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag stärker eingebunden werden.

«Beeindruckende Leistung» Martys

Gross lobte die Arbeit Martys als «beeindruckende Leistung» im Kampf für die Menschenrechte. Bei der Präsentation seines Berichts seien viele Abgeordnete von den Fakten, die Marty präsentiert habe, «erschlagen gewesen».

«Marty arbeitet präzise wie ein Staatsanwalt», sagte Gross. Dies habe er den USA bereits durch seine Aufarbeitung der Geheimgefängnisse und illegalen Gefangenentransporte der CIA deutlich gemacht.

Die Verbrechen, welche Marty nun aufgedeckt habe, seien von grosser Tragweite. Er habe sich mit einer mächtigen Mafia angelegt. Der FDP-Ständerat und seine Frau stünden deshalb mittlerweile unter Personenschutz, ihr Haus im Tessin werde bewacht.

Europarat-Rechtskommission fordert Ermittlungen

Die Rechtskommission des Europarates forderte die EU-Mission in Kosovo EULEX auf, die Untersuchungen zu diesen Verbrechen beharrlich fortzusetzen. Die EU-Staaten sollen EULEX dabei mit entsprechenden Ressourcen und politischer Unterstützung helfen. Auch die Justizbehörden in Serbien, Albanien und Kosovo müssten in all diesen Ermittlungen «voll zusammenarbeiten».

Der Bericht soll am 25. Januar 2011 bei der nächsten Plenarsitzung der Parlamentarischen Versammlung des Europarats angenommen werden.

Schweiz ruft Kosovo zur Klärung der Vorwürfe auf

Das Schweizer Aussendepartement EDA hat am Donnerstag die betroffenen Länder – namentlich Kosovo – aufgefordert, zur Klärung der Vorwürfe des Europarats-Ermittlers Dick Marty «beizutragen». Das EDA sprach von «sehr schwerwiegenden Vorwürfen».

Es müssten nun durch die zuständigen Behörden – inklusive die internationalen – die nötigen rechtlichen Schritte eingeleitet werden, hiess es beim EDA. Die EU-Mission EULEX führe bereits Untersuchungen zu Vorwürfen unmenschlicher Behandlung durch. «Hier ist nun in erster Linie die Justiz gefordert», so das Aussenministerium.

  

Das Engagement der Schweiz in Kosovo habe insbesondere zum Ziel, die Rechtsstaatlichkeit im Land zu stärken. Die Vorwürfe im Marty-Bericht seien «eher Argumente dafür», dass dieses Engagement weitergeführt werde.

Thaci will Dick Marty verklagen

Kosovos Ministerpräsident Hashim Thaci hat rechtliche Schritte gegen den Europarats-Abgeordneten Dick Marty angekündigt. Nach Angaben eines Gewährsmannes der kosovarischen Regierung vom Donnerstag kontaktierte Thaci bereits Anwälte, um gegen Marty vorzugehen.

Auch überlege Thaci, die britische Tageszeitung The Guardian, die den Bericht als erste publik machte, zu verklagen.

Mit seiner Demokratischen Partei Kosovos (PDK) gewann Hashim Thaci die Parlamentswahlen im November 2007 und wurde am 9. Januar 2008 zum Ministerpräsidenten Kosovos gewählt. Am 12. Dezember 2010 gewann die PDK erneut die Parlamentswahlen.
 
Nur gut einen Monat später, am 17. Februar 2008, rief Thaci im Parlament in Pristina die Unabhängigkeit Kosovos aus.
 
Thaci ist einer der Mitbegründer der früheren Kosovo-Befreiungsarmee UCK, die einen bewaffneten Kampf gegen die serbische Armee und Polizei in Kosovo führte. In den Jahren 1998/99 war Thaci der politische Anführer der UCK.
 
Bei der Konferenz von Rambouillet vom Februar/März 1999, an der die Internationale Gemeinschaft eine friedliche Beilegung des Kosovo-Konfliktes zu erreichen suchte, stand Hashim Thaci an der Spitze der kosovo-albanischen Delegation. Nach dem Scheitern der Konferenz begann die Nato mit Luftangriffen gegen serbische Ziele.
 
Bereits von 1990 bis 1993 war Thaci als einer der Anführer der Studentenbewegung im Widerstand gegen die serbische Staatsmacht aktiv.
 
1995 wurde ihm in der Schweiz politisches Asyl gewährt, anschliessend studierte er an der Universität Zürich südosteuropäische Geschichte und Politikwissenschaft.
 
Von Zürich aus war Thaci massgeblich am Aufbau der UCK beteiligt. 1998 kehrte er nach Kosovo zurück.

Die Schweiz hatte Kosovo bereits zehn Tage nach der Unabhängigkeits-Erklärung vom 17. Februar 2008 als neuen Staat anerkannt.

Auch hatte sie sich als eines der ersten Länder schon 2005 für die Unabhängigkeit des Landes ausgesprochen.

Zu der raschen Anerkennung der Unabhängigkeit Kosovos durch die Schweiz trug auch die grosse Zahl von Kosovaren in der Schweiz bei – heute sind es rund 170’000.

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