«Die Armee ist wie eine Versicherungspolice»
Die Armeereformen sind im Parlament zu einer ewigen Baustelle geworden. Seit Jahren gibt es keine Einigung über das Budget und die nationale Sicherheitspolitik. Offiziersgesellschafts-Chef Hans Schatzmann hält diese Situation für nicht länger tragbar.
Während des Kalten Kriegs war die Schweizer Armee «eine heilige Kuh», die bis zu einem Drittel des Bundesbudgets verschlang. Die Schweizer Armee war eine der leistungsstärksten Armeen in Europa. Doch seit dem Fall des Eisernen Vorhangs jagten sich Reformen und Sparprogramme. Inzwischen herrscht Desinteresse – die Zukunft der Armee ist unklar.
Oberst Hans Schatzmann, Präsident der Schweizerischen Offiziersgesellschaft (SOG), ist der Meinung, dass die Rolle der Armee lange überschätzt wurde. Doch heute werde sie unterschätzt. Angesichts der Gleichgültigkeit seitens der Politiker will die SOG selbst politisch aktiv werden und eine Volksinitiative lancieren.
swissinfo.ch: Bis vor einigen Jahren gingen Politik und Armee Hand in Hand. Seit einiger Zeit hat man hingegen den Eindruck, dass sich Politik und Armee nicht mehr verstehen.
Hans Schatzmann: Dieser Eindruck ist nicht ganz falsch. Die Politik hat sich von der Armee entfernt. Dies liegt wohl daran, dass sich viele Leute nach dem Fall des Eisernen Vorhangs fragen, welchen Bedrohungen unser Land überhaupt noch ausgesetzt ist. Die Welt ist nicht sicherer geworden, aber es ist schwieriger geworden, die realen und potentiellen Bedrohungen zu erkennen. Und diese Schwierigkeit spiegelt sich im Verhalten der Politiker wider.
Es geht aber nicht nur um die Rolle der Armee. Die Schweizer Politik kämpft seit einiger Zeit mit ihren eigenen Problemen. Die Schweiz befindet sich in einer Identitätskrise. Seit Jahren fragt man sich, welcher Stellenwert der Schweiz in dieser Welt zukommt. Was will die Schweiz sein? Will sie einen eigenständigen Weg gehen oder Teil der europäischen und internationalen Gemeinschaft sein?
Die Politik hat grosse Mühe, eine klare Antwort auf diese Fragen zu formulieren. Dies hat in der Folge negative Auswirkungen auf den politischen Umgang mit der Armee.
swissinfo.ch: Seit Ende des Kalten Kriegs sind schon mehr als 20 Jahre vergangen. Wieso schafft es das Parlament nicht, der Armee neue Prioritäten zu geben?
H.S.: Der Auftrag der Armee ist in der Bundesverfassung klar definiert. Heute besteht dieser Auftrag nicht mehr allein in der militärischen Landesverteidigung, sondern auch in der Notfallhilfe – etwa bei Naturkatastrophen – sowie in friedenssichernden Missionen im Ausland.
Diese Aufgabenverteilung führt regelmässig zu einer Diskussion über die Prioritäten der Armee. Einige Parteien wollen keine Missionen im Ausland, andere sehen die Zukunft der Armee vor allem in der internationalen Zusammenarbeit. Es haben sich tiefe Gräben zwischen den Parteien aufgetan, die eigentlich nichts mit dem Militär zu tun haben, sondern mit der Frage: Wie soll die Schweiz der Zukunft aussehen?
swissinfo.ch: Das Militär scheint effektiv zu einer ewigen Baustelle zu werden. Und die Parteien haben es offenbar nicht eilig, die Baustelle zu beenden.
H.S.: In der Tat hat die Politik der Armee nicht mehr viel Aufmerksamkeit geschenkt. Die Streitkräfte dienten in den letzten Jahren vor allem dazu, Geld zu sparen. Doch das Militär hat seine «Friedensdividende» längst bezahlt. Das Budget wurde im Vergleich zu früher um mehr als die Hälfte gekürzt.
Wir haben einen Punkt erreicht, an dem die nationale Sicherheit gefährdet wird und damit einer der wichtigsten Faktoren, der zu Wohlstand und Stabilität in diesem Land geführt hat.
swissinfo.ch: Können Sie nicht verstehen, dass viele Politiker Mühe mit der Armee haben, wenn ein realer Feind fehlt?
H.S.: Sicher. Seit über 60 Jahren leben wir in Europa in Frieden. Und wir können nur hoffen, dass es lange so bleibt. Doch die Welt ist nicht sicherer geworden. Überall auf der Welt gibt es Konflikte, und heute wird für Waffen mehr Geld ausgegeben als während des Kalten Kriegs.
Ich denke, dass die Schweiz ein vitales Interesse daran haben muss, sich auch auf gefährliche Eventualitäten vorzubereiten, auch wenn sie im Moment nicht wahrscheinlich sind. Das Militär ist ein wenig wie eine Versicherung. Niemand hat Lust, die Versicherungsprämien zu bezahlen, aber im Falle eines Schadens sind alle froh, versichert zu sein. Für die Schweiz und ihre Armee gilt dasselbe.
swissinfo.ch: Welchen Sicherheitsrisiken ist unser Land denn ausgesetzt?
H.S.: Wir sind uns wohl alle einig, dass ein klassischer bewaffneter Angriff im Moment nicht bevor steht. Doch Europa, und damit auch die Schweiz, ist durch terroristische Attacken und andere Gefahren sehr verwundbar geworden. Im Falle von schwerwiegenden Angriffen wären die Polizeikräfte schnell überfordert, und nur die Armee könnte noch eingreifen. Zudem sind nur die Streitkräfte in der Lage, die Sicherheit des Luftraums zu garantieren.
swissinfo.ch: Man hat jedoch den Eindruck, dass die Armee vor allem damit beschäftig ist, sich gegen die Attacken aus der Politik zu verteidigen.
H.S.: Es gehört zu den permanenten Aufgaben jeder staatlichen Institution, die eigene Existenz zu rechtfertigen. Die Armee muss ein flexibles Instrument im Dienst des Landes bleiben. Ein Instrument, das sich den Veränderungen anpasst.
Dazu gehört es, dass sich die Politik auch fragen muss, ob die Armee den heutigen Bedürfnissen entspricht und für die Herausforderungen der Zukunft gewappnet ist. Diese Debatte muss aber konstruktiv geführt werden. Leider ist die Armeediskussion in den letzten Jahren zu stark von parteipolitischen Fragen beeinflusst worden.
swissinfo.ch: Was erwarten Sie sich von den kommenden Wahlen?
H.S.: Die kommenden Wahlen werden entscheidend sein für die Zukunft der Armee. Denn das neue Parlament muss sich zu sehr wichtigen Entscheidungen in Sicherheitsfragen äussern. Ich hoffe, dass sich unter den neu gewählten Parlamentariern möglichst viele Politiker befinden, die an Sicherheitsfragen und an der Armee interessiert sind – ganz unabhängig von ihrer parteipolitischen Couleur.
swissinfo.ch: Nachdem sich die Politik wenig für die Armee interessiert, scheint sich nun umgekehrt die Armee für Politik zu interessieren…
H.S.: Die Schweizerische Offiziersgesellschaft verstand sich immer als Scharnier zwischen Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Armee. Gemeinsam mit anderen Organisationen erwägen wir die Lancierung einer Volksinitiative, um die nationale Sicherheit in Zukunft zu garantieren. Wenn die Volksvertreter sich nicht um die Armee kümmern, dann muss dies eben das Volk tun. Und bisher hat das Volk sich immer zugunsten der Armee entschieden.
Während des Kalten Kriegs verschlang die Schweizer Armee einen Drittel des Budgets der Eidgenossenschaft. Mit 700’000 Soldaten (mehr als 10% der Bevölkerung), davon mehr als 150’000 Offiziere und Unteroffiziere, stellte die kleine und neutrale Schweiz eine der grössten Armeen auf dem Kontinent.
Am 26. November 1989, nur wenige Tage nach dem Fall der Berliner Mauer, stimmte ein Drittel der Schweizer Stimmbürger der Volksinitiative zur Abschaffung der Armee zu. Dies war ein Schock für die politische Elite im Land. Die Schweizer Armee geriet seither zu einer ewigen Baustelle.
Das erste grosse Reformprojekt ‹Armee 95› führte in den 1990er-Jahren zu einer Reduktion des Bestands der Mannstärke auf 400’000. Mit der 2004 in Kraft getretenen Armeereform XXI ist die Zahl weiter auf 120’000 Aktivsoldaten und 80’000 Reservisten geschrumpft. Das Armeebudget erreicht nur noch einen Zehntel der Staatsausgaben.
Im Moment gibt die Schweiz zirka 4,1 Milliarden Franken im Jahr für ihre Sicherheitspolitik aus, davon 3,7 Milliarden für Ausrüstung und Infrastruktur der Armee. Die Schweizer Regierung beabsichtigt, den Armeebestand auf 80’000 Aktive zu reduzieren.
Die Schweizerische Offiziersgesellschaft (SOG) wurde 1833 gegründet. Die SOG ist die Dachorganisation der kantonalen Offiziersgesellschaften und Fachoffiziersgesellschaften.
Die SOG bezeichnet sich als politisch unabhängig. Sie tritt für eine leistungsstarke Armee ein und verteidigt die Interessen der Offiziere im Rahmen der Sicherheitspolitik.
Hans Schatzmann wurde 1962 geboren und schloss 1988 ein Studium in Rechtswissenschaften an der Universität Bern ab.
Seit 1993 ist er als Anwalt und Notar mit einer eigenen Kanzlei in Solothurn tätig. Er ist Oberst im Generalstab und seit 2008 Präsident der Schweizerischen Offiziersgesellschaft (SOG).
Schatzmann war auch politisch aktiv. Er war FDP-Präsident der Sektion Solothurn und Mitglied des örtlichen Parlaments. Nachdem er 2005 seinen Wohnsitz in den Kanton Bern verlegte hatte, gab er seine politische Karriere auf.
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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