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Die Islam-Debatte in der Schweiz hat zwei Seiten

Die Überraschung nach dem 29. November bleibt in Erinnerung. Keystone

Die Bilanz sechs Monate nach der Minarettabstimmung fällt kontrastreich aus. Einerseits werden den Schweizer Behörden Bedeutung und Vielseitigkeit der islamischen Gemeinschaften bewusst. Der Islam ruft andererseits aber auch Ängste hervor.

Die Überraschung nach dem 29. November bleibt lebhaft in Erinnerung. Dass die Mehrheit der stimmberechtigten Schweizerinnen und Schweizer einer Verfassungsänderung zustimmten, die den Bau von Minaretten verbietet, hat zumindest dazu geführt, dass die Problematik ins Bewusstsein gerückt ist.

«Man beginnt in der Schweiz über den Islam zu sprechen. Das war vorher nicht der Fall», sagt Saïda Keller-Messahli, die Präsidentin des Forums für einen fortschrittlichen Islam.

«Obwohl ich das Resultat nicht begrüsse, weil es die Religionsfreiheit verletzt, hat dieser Urnengang gezeigt, dass es ein grosses Unbehagen rund um den Islam gibt und dass viele falsche Bilder von dieser Religion und ihren Gläubigen vorhanden sind.»

Die Abstimmung habe «eine offene Diskussion via Medien und Institutionen ermöglicht. Seit dieser Entscheidung spricht man über die problematischen Punkte des Islams», so Keller-Messahli weiter.

Der Politologe Ahmed Benani aus Lausanne teilt diese Meinung: «Die Wichtigkeit, die der Islam beansprucht, war eine Entdeckung für die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. Sie fragen sich von nun an, wie sie mit den Gläubigen der zweitgrössten Religionsgemeinschaft des Landes zusammenleben können.»

Stéphane Lathion, der Präsident der Forschungsgruppe Islam in der Schweiz, ist skeptischer: «Ich bin nicht sicher, ob dieses Bewusstsein in der Schweiz existiert. Man bleibt im emotionalen Bereich. Wirkliche Überlegungen über die Realität, welche die Muslime in der Schweiz erleben, gibt es nicht, weder auf der Ebene der Behörden noch der politischen Parteien. Wir benötigen eine Grundsatzdebatte.»

Vernehmlassungsprozess

Auch Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf versucht in einem Vernehmlassungsprozess eine Debatte auszulösen. Die Vernehmlassung war von ihrem Vorgänger Christoph Blocher 2007 initiiert worden.

«Der Verlauf der Vernehmlassung ist positiv, umso mehr als noch nichts Derartiges stattgefunden hat. Sogar die Sicherheitsüberlegungen tragen zu diesem Prozess bei, es löst bei vielen Muslimen das Bewusstsein aus, dass der Islam ein anderes Gesicht bekommen muss», stellt Benani fest.

Eine führende Organisation in diesem Prozess ist das Forum für einen fortschrittlichen Islam. Saïda Keller-Messahli meint: «Wir sind uns bewusst, dass die Teilnehmenden nicht die Mehrheit der Muslime in der Schweiz repräsentieren. Die meisten Organisationen sind konservativ.»

Die Präsidentin des Forums bringt es auf den Punkt: «Die islamischen Vereinigungen repräsentieren nur ungefähr 15 Prozent der muslimischen Bevölkerung in der Schweiz. Die grosse Mehrheit dieser ruhigen und liberalen Bevölkerung ist nicht organisiert. Die Behörden wissen somit nicht, mit wem – ausser diesen islamischen Vereinigungen – sie verhandeln könnten.»

Kritische Stimmen

«In der Schweiz ist unsere Vereinigung ein Teil der kritischen Stimmen», präzisiert Keller-Messahli. «Nun repräsentieren solche Stimmen wie die unsere die Mehrheit der Muslime in der Schweiz. Das Problem ist, dass die schweigende Mehrheit keine Lust hat, sich zu exponieren.»

Der Lausanner Politologe Ahmed Benani hält dagegen fest: «Diese Mehrheit wurde lange als schweigend angesehen, sie ist es jedoch immer weniger. Aber sie organisiert sich kaum in Vereinigungen.»

«Es wird aber kein Ideal eines modifizierten Islams gezeichnet, vielmehr zeigen sich individuelle Haltungen, die die Religion als nicht prioritär ansehen, sogar solche, die den Islam ablehnen. Auch in Genf, wo eine laizistische muslimische Vereinigung gegründet wurde, scheint sie selbst nicht davon überzeugt zu sein. Aber obwohl die Leute es ablehnen, sich auf der Grundlage eines Bezugs zum Islam zu organisieren, gibt es eine wachsende Zahl dieser ‹Nicht-Religiösen›, die an der Debatte individuell teilnehmen möchten.»

Saïda Keller-Messahli ist der Meinung, dass der Ausdruck dieser individuellen Stimmen eine Chance ist: «Für die Behörden ist es schwierig, mit der Heterogenität des Islams umzugehen. Aber sie ist sehr bereichernd. Der Islam ist kein Monolith. Man muss die Mehrstimmigkeit des Islams akzeptieren. Es ist eine Reichhaltigkeit, die seit der Entstehung des Islams existiert.»

Diese Ansicht teilen die islamischen Vereinigungen in der Schweiz nicht unbedingt. «Die konservativen Vereinigungen beteuern, dass ganz viele der Praktiken, die zu muslimischen Riten gehören, oft nichts mit der Religion zu tun haben. Das ist auch bei der Kopftuchfrage der Fall. Diese Tradition geht auf die Antike zurück», sagt Keller-Messahli.

Opferfreundliche Haltung

«Die Verletzung, die durch die Annahme der Abstimmung über die Minarette hervorgerufen wurde, ist immer noch da. Aber ich kritisiere jene, die mit dieser Verletzung stehen bleiben, die eine Art Opferhaltung angenommen haben und damit sagen wollen, dass der ganze Fehler bei den anderen liege. Man muss vom Opfer zur aktiv handelnden Person werden. Übrigens haben viele der Muslime in der Schweiz für ein Minarettverbot gestimmt, weil sie nicht einverstanden sind, wie die Moscheen in der Schweiz geführt werden oder weil sie die Diskriminierung der Frauen nicht gutheissen», sagt Keller-Messahli.

Stéphane Lathion beschreibt den Kontext, in dem diese Opferhaltung entstehen konnte: «Gläubig oder nicht, die Muslime in der Schweiz haben ständig das Gefühl, man zeige mit dem Finger auf sie und rechtfertigen sich. Dieses Klima wurde nach der Abstimmung von vielen Medien noch genährt. Dies hat man im Zusammenhang mit dem Prediger Blancho gesehen. Das ist unverantworbar.»

«Die Gemeinden fühlen sich ständig bedroht und bleiben in einer Verteidigungshaltung, sogar in einer Provokationshaltung. Die Angst und das Misstrauen regieren. Dies führt zu Ablehnung und Rückzug.»

Wegkommen vom Religiösen

Welcher Dialog denn auf einer solchen Basis entstehen könne, fragt der Forscher. Er schlägt einen anderen Kanal der Diskussion vor: «Auf der lokalen Ebene spielt sich der Austausch weniger schlecht ab, weil sich die Leute kennen.»

«Man sollte mehr von den Bürgerinnen und Bürgern muslimischen Glaubens sprechen als vom Islam. Sie haben Sorgen in Bezug auf die Unterstützung in den Schulen, der älteren Leute, im Gesundheitswesen. Wir müssen damit aufhören, Religion dorthinzutun, wo sie nicht ist.»

Frédéric Burnand, Genf, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Französischen: Eveline Kobler)

«In Krisenzeiten sind gewisse Parteien auf die Muslime fixiert und sie verbreiten eine ablehnende Haltung gegenüber dem Islam. Das kann zu gefährlichen Entwicklungen führen. Es ist wichtig, dass wir – ob Muslime oder nicht, gläubig oder nicht – uns dessen bewusst sind. Vor allem dürfen wir nicht meinen, dass die Probleme, die durch die Abstimmung vom 29. November ans Tageslicht kamen, sich mit der Zeit erübrigen.

Die Kirchen haben manchmal eine scheinheilige Haltung. Die protestantische und die katholische Kirche sind verunsichert wegen der wachsenden Bedeutung des Islams. Deshalb meinen einige Geistliche, dass der Argwohn gegenüber dem Islam keine so schlechte Sache sei.»

Ahmed Benani, Lausanner Politologe

Gemäss Volkszählung lebten im Jahr 2000 rund 311’000 Muslime in der Schweiz. 1970 waren es erst 16’000, 1980 bereits 57’000 und 1990 rund 152’000.

1990 gehörten 2,2% der Bevölkerung der muslimischen Religion an. Bis 2000 ist ihr Anteil auf 4,3% gestiegen, vor allem als Folge der Kriege im ehemaligen Jugoslawien, als viele Flüchtlinge aus dem Balkan in die Schweiz kamen.

90% der Muslime kommen aus dem Balkan und der Türkei. Die Muslime arabischer Herkunft machen lediglich 6% aus. Nur 1 von 10 Muslimen hat einen Schweizer Pass.

Die Mehrheit der muslimischen Bevölkerung ist jung und lebt in urbanen Regionen.

b>Nur eine kleine Minderheit kann als streng gläubig bezeichnet werden.

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