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Die Schweiz im Dornröschenschlaf?

Mit der Expo.02 bewegte er die Schweiz: Martin Heller. Keystone

Seit den Parlamentswahlen scheint die Schweiz in Bewegung wie seit Jahren nicht mehr. Dies sei eine gefährliche Täuschung, warnt der frühere Expo.02-Chef Martin Heller im Gespräch mit swissinfo.

Die mediale Aufgeregtheit um die Bundesratswahlen überdecke die dringlichen Probleme des Landes.

Die Ausgangslage vor den Bundesratswahlen vom 10. Dezember hat Schwung in die Diskussion über das Schweizer Regierungssystem gebracht. Die einen sehen die Konkordanz in Gefahr, andere erhoffen sich einen Aufbruch zu neuen Ufern.

Diese ganze Aufregung berührt den früheren Expo-Direktor Martin Heller nicht. Für ihn überdeckt der Aktivismus von Medien und Politik lediglich den «politischen Quasi-Stillstand» der Schweiz.

swissinfo: Kann die Schweizerische Volkspartei (SVP) die Schweiz in Fahrt bringen, wenn sie mit Christoph Blocher auch bei den Bundesratswahlen als Siegerin hervorgeht?

Martin Heller: Das halte ich ganz klar für ausgeschlossen. Eine Partei, die mit einem kulturellen Selbstverständnis antritt, das versucht, dieses Land künstlich in Totenstarre zu erhalten und letztlich nur dort Bewegung ortet, wo es den eigenen Interessen dient, die ist niemals im Stande, das in Bewegung zu setzen, was heute nötig wäre: Initiative, Schwung und Begeisterung vermitteln, um aus der Schweiz eine potentere Nation zu machen, als sie es zur Zeit ist.

swissinfo: Politik und Medien finden aber die aktuelle Entwicklung äusserst bewegt und aufregend…

M.H.: Ich sehe das überhaupt nicht so. Ich glaube, dass diese ganze Aufgeregtheit, dieses Zappeln, ein gravierendes Problem in sich trägt. Dieses ganze Operettentheater – gerade jetzt die Bundesratswahlen – verdeckt andere, grundlegendere Probleme; es wird nicht dorthin geschaut, wo effektiv Handlungsbedarf wäre.

swissinfo: Wo sehen Sie am dringlichsten Handlungsbedarf?

M.H.: In den letzten vier Jahren habe ich die Schweiz als sehr gespalten erlebt. Politik, Kultur, Wirtschaft etablieren ihre eigenen Agenden. Es gibt sehr wenige Leute und Institutionen, die das gesamtgesellschaftliche Potenzial des Landes ausschöpfen. Hier sehe ich grossen Handlungsbedarf.

Ich sehe, besonders nach meinen Expo-Erfahrungen, dass die vier tradierten Kulturen der Schweiz ständig auseinanderdriften. Ich sehe keine Ansätze, diese kulturelle Vielfalt produktiv zu leben, in eine gemeinsame Diskussion einzubringen.

Vier Kulturen, die je länger je mehr nicht einmal mehr miteinander reden können, weil die Sprachkompetenz abnimmt und die Akzeptanz des Englischen ganz unterschiedlich ist. Vier Kulturen, die unterschiedliche Einschätzungen haben von dem, was dem Land und ihnen selbst gut täte.

Dabei wäre eine solche kulturelle Vielfalt so interessant, vielfältig und verführerisch. Aber in Wirklichkeit sind wir froh, wenn wir einander nicht berühren müssen. Weil wir damit meinen, dem Konflikt aus dem Wege zu gehen – trotz dem offiziellen Geplapper von nationalem Zusammenhalt.

Und dann gibt es noch ein ganz grosses politisches Thema: der Föderalismus. Ich bin ganz klar der Überzeugung, dass sich die Schweiz diesen in der aktuellen Form nicht mehr leisten kann. Das zieht Energie ab von wichtigeren Problemen; das ist Kleinkrämertum, ein Aushandeln von regional- und kantonal-politischen Vorteilen, ein Versuch, die Schweiz parzelliert zu leben und zu denken.

Das geht nicht mehr, angesichts grösserer Probleme, angesichts Europas, angesichts der Notwendigkeit, sich kulturell einzulassen auf andere Themen und auf ein anderes Tempo. Wir können uns diesen Föderalismus als Energieverschwendung nicht mehr leisten.

swissinfo: Kann da mit Reformen im politischen System geholfen werden?

M.H.: Man wünscht sich natürlich immer Reformen. Aber ich weiss nicht, wie das funktionieren soll. Für mich hat sich seit längerem gezeigt, insbesondere nach meinen Erfahrungen mit der Expo.02, dass die Politik für die einzelnen Bürgerinnen und Bürger gewaltig an Bedeutung verloren hat.

Wir definieren uns nicht mehr politisch und schon gar nicht parteipolitisch. Die einzigen, die das noch nicht gemerkt haben, sind die Politiker selbst. Wir definieren uns weit mehr durch kulturelle Aktivitäten, durch das tägliche Leben, durch vieles, was die Schweiz nach wie vor lebenswert und attraktiv macht.

Aber dieses Schauspiel, das die Politik heute wieder bietet, das ist unwürdig. Und damit lässt sich auch nichts reformieren.

swissinfo: Während die EU durch die Osterweiterung an Grösse und politischem Gewicht noch zunimmt, wird der europäische Alleingang der Schweiz – mit oder ohne Christoph Blocher im Bundesrat – noch eine Weile andauern. Welche Konsequenzen sehen Sie da für uns?

M.H.: Es gibt mehrere Konsequenzen. Man kann selbstverständlich gegen einen EU-Beitritt der Schweiz sein. Es gibt auch einige Kulturschaffende, die, aus welchen Gründen auch immer, dieser Ansicht sind. Aber wenn man abseits stehen will, muss man wissen, dass kulturelle Kompetenz heute mehr denn je als wirtschaftlicher Standortvorteil gilt.

Deshalb ist der europäische Alleingang der Schweiz nur zu kompensieren mit einem gewaltigen Überschuss an kultureller Leistung, die uns beweglich und offen halten müsste. Von einem solchen Überschuss träumen SVP und die anderen Parteien keine Sekunde.

Ein weiterer Aspekt ist die Tatsache, dass in anderen europäischen, auch osteuropäischen Ländern, wo ich oft bin, eine Selbstverständlichkeit europäischen Denkens spürbar ist. Da steckt viel Power dahinter, die Dinge zu ändern, Kooperation zu erzwingen.

All das geht an der jetzt aktiven Generation in der Schweiz vorbei. Wie soll sie sich denn die notwendige Kompetenz holen, um sich in einem an sich vereinten Europa als Insel behaupten zu wollen? Da hat unser Insel-Mythos eine fast schon selbstzerstörerische Komponente.

swissinfo: Das tönt ja alles nicht gerade optimistisch. Haben Sie als Mann der Kultur gar keine Vision, wie eine andere, neue Schweiz aussehen müsste?

M.H.: Nun, ich lebe gerne hier. Ich habe während der Expo.02 ein Land erlebt, das sich sehr wohl bewegen lässt. Aber es bräuchte mehr Mut, von Einzelnen, von einzelnen Medien, einzelnen Exponenten, für Diskussionen, um dem politischen Quasi-Stillstand ein Ende zu setzen.

Es gibt so viel Geld in diesem Land, und dennoch wird überall gejammert, überall gespart. Dabei gibt es so viele kulturelle Fähigkeiten, so viel internationales Geschick. Aber wir stellen das wie bewusst unter den Scheffel.

Eine der interessantesten Reaktionen auf die Expo.02 hörte ich in Österreich. Ein Politiker kam auf mich zu und dankte mir, dass ich jetzt in Österreich arbeite. Er habe die Schweizer Expo gesehen, sie sei wunderbar gewesen. Nur eines habe er nicht begriffen: Wie wenig die offizielle Schweiz aus diesem Anlass gemacht, ihn quasi verschlafen habe.

Das trifft es genau. Diese Schläfrigkeit austreiben – das wäre die Vision.

swissinfo-Interview: Jean-Michel Berthoud

Martin Heller (geb. 1952) ist Kunsthistoriker und Ethnologe

Ab 1986 Kurator, dann 1989 Direktor des Museums für Gestaltung Zürich

Ab 1997 zudem Direktor des Museums Bellerive Zürich

1995-97 Gastprofessor an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe

1999-2003 künstlerischer Direktor der Schweizer Landesausstellung Expo.02

Seit 5 Monaten selbstständiger Kulturunternehmer (Heller Enterprises), Autor und Ausstellungsmacher

Ab Mai 2003 künstlerischer Leiter für die Bewerbung Bremens als Kulturhauptstadt Europas 2010

Die Parlamentswahlen vom Oktober und die bevorstehenden Bundesrats-Wahlen vom 10. Dezember bringen die Schweiz täglich in Wallungen. So sehen es zumindest Medien und Politik.

Ganz anders sieht es Martin Heller, der frühere Direktor der Schweizer Landesausstellung Expo.02. Im Gespräch mit swissinfo bezeichnet er die ganze mediale und politische Aufgeregtheit als «Operettentheater», das von den wirklichen Problemen der Schweiz ablenke.

Dass die Schweizerische Volkspartei (SVP) die Schweiz in Fahrt bringt, glaubt Heller nicht. Denn das kulturelle Selbstverständnis der SVP versuche lediglich, «das Land künstlich in Totenstarre zu erhalten».

Hart ins Gericht geht Kulturunternehmer Heller auch mit dem Schweizer Föderalismus: Dieser ist für ihn ein Versuch, «die Schweiz parzelliert zu denken». Ein solches «Kleinkrämertum» könne sich die Schweiz nicht mehr leisten.

Auch vom Schweizer Abseitsstehen von Europa hält Heller nichts. Der «Insel-Mythos» hat für ihn eine fast schon selbstzerstörerische Komponente.

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