Die Schweiz ist nicht mehr im Herzen Europas
Die Osterweiterung der Europäischen Union wird die Schweizer Marginalisierung verstärken: Dies die Ansicht der Schweizer Aussenministerin Calmy-Rey.
Diese Dynamik erkläre einen Grossteil der aktuellen Spannungen der Schweiz mit ihren Nachbarn, speziell Deutschland.
«Wenn die 10 neuen Staaten im Mai der Europäischen Union beitreten, verschiebt sich das Zentrum der EU Richtung Osten.»
Anders gesagt, werde die Schweiz nicht mehr im Herzen Europas liegen, erklärte die Aussenministerin vor dem Schweizer Presseclub, dem Verein der bei der UNO akkreditierten Medienvertreter.
«Die Probleme, die wir mit unseren Nachbarn haben, nehmen in der Schweiz ein nationales Ausmass an», so Calmy-Rey. «Bei unseren Nachbarn hingegen sind es eher Probleme der Regionen, die bei den Regierungen auf nationaler Ebene nicht unbedingt an vorderster Front stehen.»
Dieser Unterschied, so die Aussenministerin, erkläre zu einem grossen Teil die aktuellen Spannungen zwischen der Eidgenossenschaft und Deutschland.
Die Konsequenzen
«Die Mehrheit der Streitigkeiten mit Berlin», so Calmy-Rey weiter, «betreffen Süddeutschland. Sei es der Flughafen Kloten oder die Bewirtschaftung von deutschen Bauernhöfen durch Schweizer Bauern.»
«Die Schweiz hat sich entschieden, nicht Teil der Europäischen Union zu sein. In der Konsequenz heisst das, dass sie auch so behandelt wird», unterstreicht die Bundesrätin in Anspielung auf die verstärkten Kontrollen an der deutsch-schweizerischen Grenze.
Wenn das Land bei dieser Position bleibe, werde dies in Zukunft weitere Probleme mit sich bringen. Und die Notwendigkeit neuer Verhandlungen.
«Zur Stunde haben wir keine andere Wahl, als so schnell wie möglich auf die europäischen Entscheide zu reagieren», räumt die Aussenministerin ein.
Die Schweiz müsse daher die Beziehungen zu ihren europäischen Nachbarn intensivieren. Um damit die negativen Konsequenzen zu minimieren, die sich aus Beschlüssen ergeben, die ohne Mittun der Schweiz fallen.
«Die derzeitigen Verhandlungen mit Brüssel – die Bilateralen II – regeln nicht alle Probleme. Und unsere Position gegenüber einer EU mit 25 Mitgliedern wird zunehmend schwieriger», unterstreicht Calmy-Rey.
Die Schweiz ist unumgänglich
Dennoch hat die Schweiz weiterhin solide Argumente, die sie gegenüber ihren Nachbarn geltend machen kann.
Dazu gehört, dass die Schweiz nach den USA der zweitgrösste Handelspartner der Europäischen Union ist. Und rund 800’000 Europäerinnen und Europäer in der Schweiz arbeiten.
Und was Sicherheitsfragen angeht, wie die Bekämpfung des Terrorismus, habe die «Europäische Union kein Interesse an Lücken in ihrem Dispositiv».
Zudem nehme die Schweiz am Aufbau Europas teil, auch als Nicht-Mitglied der EU, zum Beispiel mit dem Bau der Neuen Eisenbahn- Alpentransversalen (NEAT), so die Aussenministerin.
Die Tunnels, die mehr als 15 Milliarden Franken kosten, werden eine bessere Verbindung zwischen dem Norden und dem Süden Europas ermöglichen.
Die Eidgenossenschaft ist überdies stark engagiert im Dialog und den Aufbau-Projekten in den Balkanländern – möglichen weiteren EU-Kandidaten.
Die Agenda der Schweiz
Zum Abschluss ihrer Ausführungen rief die Aussenministerin nochmals die Prioritäten der Schweiz mit Blick auf Europa, die Europäische Union, in Erinnerung:
Erste Priorität habe der Abschluss der zweiten bilateralen Verhandlungen, die in grossen Teilen in der Schlussphase sind.
Allerdings seien einige Dossiers noch offen: Beim Zollbetrug und der Zinsbesteuerung erwartet die EU Konzessionen von der Schweiz. Dazu kommen die Abkommen von Schengen und Dublin (Stichwort: Polizei-und Justiz-Zusammenarbeit).
Gegen innen will die Regierung den Schweizern und Schweizerinnen die negativen und positiven Konsequenzen eines allfälligen Beitritts aufzeigen. Darauf besteht der Bundesrat.
Die Regierung wird daher einen Bericht erstellen, der der Öffentlichkeit vor 2007, also vor den nächsten nationalen Wahlen präsentiert werden soll.
Auf die Frage, was sie von der Möglichkeit einer allfälligen, künftigen Mitgliedschaft der Schweiz in der EU hält, antwortet Michelin Calmy-Rey: «Die Schweizer sind pragmatisch.»
swissinfo, Frédéric Burnand
(Übertragung aus dem Französischen: Brigitta Javurek)
Die Schweiz steht in Europa immer isolierter da.
Die EU hat heute 15 Mitglieder
Ab dem 1. Mai 2004 sind es 25
Die Schweiz und die EU verhandeln zur Zeit über ein zweites Paket bilateraler Verträge. Es geht um neun Dossiers.
Offen sind noch: Zinsbesteuerung, Zollbetrug und die Schweizer Teilnahme an den Abkommen von Schengen und Dublin (Grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Polizei, Justiz- und Asylbereich).
Für neue Unstimmigkeiten sorgen die Pläne der EU, Schweizer Re-Exporte in die EU-Staaten ab dem 1. Juni 2004 mit neuen Zöllen zu belegen.
Das bei der EU deponierte Gesuch der Schweiz um Beitritt zur EU bleibt in der derzeitigen Legislatur-Periode, das heisst bis 2007, auf Eis.
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