«Die Schweizer Bevölkerung wurde irregeführt»
Eine klare Mehrheit in der Schweiz will keine Minarette im Land. Für Ismael Amin, Ex-Präsident der Vereinigung islamischer Organisationen in Zürich, kam dieser Abstimmungsausgang völlig überraschend. Er spricht von einer aggressiven und irreführenden Kampagne.
swissinfo.ch: Das Schweizer Stimmvolk hat überraschend und sehr deutlich Ja zu einem Minarett-Verbot gesagt. Haben Sie das in dieser Wucht erwartet?
Ismael Amin: Überhaupt nicht. Ich habe nie damit gerechnet, dass diese Initiative angenommen wird. Das kam völlig überraschend für mich. Ich habe mit einem Nein gerechnet. Mit einem knappen Nein. Es war ein trauriger Tag für mich.
swissinfo.ch: Wie haben die Muslime in der Schweiz auf das Abstimmungsresultat reagiert?
I.A.: Über Reaktionen ist mir wenig bekannt. Ich habe gestern ein paar Telefonate mit Freunden geführt. Alle sind sehr empört und enttäuscht über dieses Ergebnis.
swissinfo.ch: Sechs von zehn Stimmen an der Urne sprachen sich gegen den Bau von Minaretten aus. Wie interpretieren Sie dieses Votum?
I.A.: Es ist enttäuschend, dass diese Initiative angenommen wurde. Die Kampagne wurde sehr scharf und aggressiv geführt. Das Thema Minarette kam wenig zur Sprache, vielmehr ging es um den Islam, und zwar mit irreführenden Argumenten.
So sprach man von Zwangsheirat, wo doch die Scharia besagt, dass die Zwangsheirat verboten ist. Man sprach von der Beschneidung, wo sich doch alle Rechtsgelehrten gegen die Beschneidung von Frauen ausgesprochen hatten. Man sprach vom Tragen der Burka. Wir haben nie eine Burka in der Schweiz gesehen.
Man spricht also von Themen, die überhaupt nichts mit den Minaretten zu tun haben. Man hat die Ängste der Leute und das Unwissen der Bevölkerung ausgenutzt und instrumentalisiert. So kam es zu diesem enttäuschenden Ergebnis.
Die Schweizer Bevölkerung muss ich aber in Schutz nehmen. Denn das Volk wurde irregeführt.
swissinfo.ch: Geht es auch um mangelnde Integration der muslimischen Bevölkerung in der Schweiz?
I.A.: Ich glaube nicht, dass die muslimische Bevölkerung schlecht in die Gesellschaft integriert ist. Die meisten Muslime sind gut integriert und üben ihre Religion problemlos aus. Von mangelnder Integration kann ich überhaupt nicht sprechen.
swissinfo.ch: Geht es vielmehr um Ängste, um Misstrauen?
I.A.: Man hat nach dem Fall der Sowjetunion ein neues Feindbild gesucht und hat es im Islam gefunden. Seither ist die Stimmung gegenüber dem Islam in den Medien nicht gut. Deshalb konnte man die Leute leicht manipulieren und mit ihrer Unwissenheit agieren, das war gar kein Problem.
swissinfo.ch: Sie sprechen von Unwissen. Heisst das, dass die muslimische Bevölkerung mehr an die Öffentlichkeit treten sollte, mehr Nähe zu nicht-muslimischen Schweizern suchen sollte?
I.A.: Ja, sicher. Wir sollten unsere Präsenz in der Schweiz klar hervorheben. Es geht nicht, dass wir stets in den Hinterhöfen bleiben, als ob wir ein Nichts in der Gesellschaft wären.
Die muslimische Gesellschaft steht sozial schlecht da, das ist klar. Deshalb konnte sie keine Gegenkampagne führen, wie das die SVP tun konnte.
swissinfo.ch: In der Schweiz leben rund 400’000 Menschen aus muslimischen Ländern. Was heisst das jetzt für diese Gemeinschaft?
I.A.: Das ist schwierig vorauszusehen. Aber ich kann mir vorstellen, dass man betrübt ist, nach Wegen sucht, miteinander diskutiert und analysiert, was daraus zu machen ist und wie man jetzt mit der neuen Situation umgehen soll.
swissinfo.ch: Wie soll es jetzt weitergehen?
I.A.: Wie ich aus der Presse vernommen habe, ist es schwierig, diese Initiative umzusetzen. Man weiss nicht einmal, ob sie überhaupt umsetzbar ist. Möglich ist auch der Weg an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. Ob und wie das geschieht, weiss ich nicht.
Gaby Ochsenbein, swissinfo.ch
Ismael Amin stammt aus Ägypten und lebt seit 1960 in der Schweiz.
Der Arabist und Islamwissenschaftler ist ehemaliger Präsident der Vereinigung islamischer Organisationen in Zürich (VIOZ).
In der Schweiz leben rund 400’000 Muslime.
Im Jahr 2000 betrug der Anteil der Muslime an der Wohnbevölkerung 4,26%. Damit sind sie die drittgrösste Religionsgemeinschaft in der Schweiz, hinter den Katholiken und den Protestanten.
Von 1990 bis 2000 hat sich die islamische Bevölkerung aus Ex-Jugoslawien in der Schweiz verdreifacht. Damit stellen die Muslime vom Balkan mit einem Anteil von 56,4% heute die grösste Gruppe der islamischen Bevölkerung in der Schweiz.
Im Jahr 2000 waren 20% der Muslime in der Schweiz Türken, 11,7% waren Schweizer und 6% kamen aus Afrika, vor allem aus den Maghreb-Staaten.
Rund 8 bis 14% der Muslime in der Schweiz praktizieren den Islam.
In der Schweiz gibt es vier Moscheen mit Minaretten, und zwar in Zürich, Genf, Winterthur und Wangen bei Olten.
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