Die Tyrannen haben noch nichts zu befürchten
Vor 10 Jahren rüttelte ein erstarktes internationales Recht an der Straflosigkeit der Diktatoren. Heute ist dieser Schwung gebrochen, weil die einzelnen Staaten wieder mehr Macht erlangt haben, sagt Pierre Hazan, der Genfer Experte für internationales Recht.
1998, als 120 Staaten in Rom das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) unterzeichneten, schienen die Tage der Diktaturen gezählt zu sein.
Zur selben Zeit stellte das UNO-Tribunal für Ex-Jugoslawien den Serbenführer Slobodan Milosevic unter Anklage, Grossbritannien nahm auf Anklage des spanischen Richters Garzon den chilenischen Ex-Diktator Augusto Pinochet fest, und Belgien verabschiedete ein Gesetz zur Strafverfolgung schwerer Verletzungen gegen das Völkerrecht, das den Richtern eine universelle Zuständigkeit gab.
Lauter Ereignisse, welche die Unterdrücker und ihre Komplizen beängstigen mussten. 10 Jahre später hat der Wind wieder gedreht, stellt Pierre Hazan fest, Autor des Buches «Juger la guerre, juger l’Histoire» über internationales Recht.
swissinfo: Der angestrebte Prozess gegen den sudanesischen Präsidenten Omar al Baschir bedeutet die Stunde der Wahrheit für den Internationalen Strafgerichtshof, nicht wahr?
Pierre Hazan: Es ist jedenfalls das erste Mal, dass ein Untersuchungsrichter des IStGH seine Absicht bekräftigt, gegen einen Präsidenten im Amt zu ermitteln. Ein Verfahren, das ein diplomatisches Sperrfeuer ausgelöst hat.
Man muss wissen, dass Sudan dem UNO-Abkommen über den Internationalen Strafgerichtshof nicht beigetreten ist. Der UNO-Sicherheitsrat hat das Darfur-Dossier (in der sudanesischen Provinz wurden schreckliche Gewaltverbrechen gegen die Zivilbevölkerung verübt, N.d.R.) dem IStGH auf Ersuchen Frankreichs und Grossbritanniens überreicht.
In der Folge haben die Mitglieder der Arabischen Liga und der Afrikanischen Union mit Zaudern reagiert.
Noch überraschender ist allerdings, dass Frankreich als Initiatorin des Verfahrens jetzt auf eine Bestimmung im Statut des IStGH zurück greift, um ein Eingreifen des Gerichtshofs in dieser Angelegenheit zu verschieben. Und dies im Namen der Friedensfindung im Sudan.
swissinfo: Diese Situation scheint sinnbildlich zu sein für die Schwierigkeiten, mit denen der Strafgerichtshof konfrontiert ist?
P.H.: Ende der 90er-Jahre schien es, als ob das Recht in den internationalen Beziehungen eine entscheidende Rolle spielen werde. Es gab die Vision eines starken Rechts, das sich im IStGH verwirklichen würde.
Aber heute befinden wir uns in einem ganz andern Kontext. Wir erleben in der Aussenpolitik eine Erstarkung der einzelnen Staaten zulasten der multilateralen Institutionen. Das internationale Recht mitsamt den Genfer Konventionen wird stark in Frage gestellt.
Mehr noch als früher betrachten die Staaten das internationale Recht als juristische Waffe, die sich für eigene Interessen einsetzen lässt. Das trifft vor allem im Fall Sudan zu.
swissinfo: Mangelt es dem IStGH an Legitimität?
P.H.: Es brauchte nur ein paar Jahre, bis die Statuten des IStGH von mehr als 60 Staaten (Mindestzahl für die Inkraftsetzung) angenommen wurden. Dieser Erfolg, den niemand so schnell für möglich erachtet hatte, beruhte auf einer starken Mobilisierung der Zivilgesellschaften im Norden wie im Süden.
Aber in der gleichen Zeit haben die Attentate vom 11. September einen Bruch und eine neue internationale Konfiguration hervorgerufen, die für die Entwicklung eines unabhängigen internationalen Rechts ungünstig waren.
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swissinfo: Ist der IStGH dennoch das beste Instrument, um der Straflosigkeit der Diktatoren ein Ende zu setzen?
P.H.: Der IStGH hat diese Macht nicht, weil er nicht in allen Ländern eingreifen kann, und die Anzahl Diktatoren bedeutend bleibt. Die Mittel des IStGH sind sehr begrenzt.
Auch sein Wirkungsgrad ist beeinträchtigt, weil es keine internationale Polizei gibt, die in seinem Dienst steht. Der Internationale Strafgerichtshof hängt also vom Handeln der einzelnen Staaten ab, sei es auch nur für die Festnahme der Angeklagten, vor allem wenn es sich um Staatschefs oder politische oder militärische Führer handelt.
Diese Tatsache lässt die Grundidee des Gerichtshofs – nämlich die Allmacht des Rechts – zur Utopie werden. Diese Erwartungen der öffentlichen Meinung, der Zivilgesellschaft und der Opfer sind im Vergleich dazu absolut unverhältnismässig.
swissinfo: Kann der IStGH auf juristischer Ebene gegen irgend einen Diktator Anklage erheben oder nur gegen solche, die sich der Massentötung schuldig gemacht haben?
P.H.: Der Gerichtshof ist für Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid zuständig. Die Bezeichnung Diktator an sich ist noch keine ausreichende Bedingung für das Eingreifen des Internationalen Strafgerichtshofs.
swissinfo: Wird sich der IStGH eines Tages von den Fesseln der einzelnen Staaten befreien können?
P.H.: Zuerst müsste er den betroffenen Völkern gegenüber seine Rechtmässigkeit beweisen können. Der IStGH, der auf den Haager Bestimmungen basiert, muss eine Verbindung herstellen und pädagogisches Geschick mit jenen Völkern entwickeln, die sich im Krieg oder im Elend und Tausende Kilometer von Den Haag entfernt befinden.
Für diese juristische Bürokratie im Norden Europas ist es aber sehr kompliziert, eine solche Verbindung herzustellen.
Interview: swissinfo, Frédéric Burnand, Genf
(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)
Am 17. Juli 1998 stimmte eine Staatenkonferenz in Rom dem so genannten «Römer Statut» zu, mit dem ein ständiger Internationaler Strafgerichtshof (IStGH) mit Sitz in Den Haag geschaffen wurde.
Der IStGH ist zuständig für die Verfolgung und Beurteilung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Er wird dann tätig, wenn die zuständigen nationalen Behörden nicht willens oder nicht in der Lage sind, selber diese Verbrechen ernsthaft zu verfolgen.
Die Schweiz als Depositärstaat der Genfer Konvention hat die Arbeiten zur Errichtung eines starken und unabhängigen Gerichtshofs massgeblich unterstützt.
2001 hat sie das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) ratifiziert und dabei die unmittelbar erforderlichen gesetzlichen Grundlagen für die Zusammenarbeit mit dem Gericht erlassen.
(Quelle: Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA)
Der Internationale Strafgerichtshof für Ex-Jugoslawien (1993)
Der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda (1994)
Das Sondergericht für Sierra Leone (2000)
Das Kambodscha-Tribunal zur Verfolgung der Verbrechen den Roten Khmer (2004)
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