Die Weiterentwicklung der Bilateralen liegt im Interesse der Schweiz und ihrer Wirtschaft
Die Schweizer Unternehmen sind mehr denn je auf Stabilität und Berechenbarkeit angewiesen. Vor diesem Hintergrund und zur Sicherung des Wohlstands ist es unerlässlich, die Beziehungen zur Europäischen Union, dem wichtigsten Handelspartner der Schweiz, weiterzuentwickeln. Diese Meinung vertritt Cristina Gaggini, Westschweizer Direktorin des Wirtschaftsderbands Economiesuisse.
Handelskriege, bewaffnete Konflikte vor den Toren Europas, Multilateralismus in der Krise: All dies sind Faktoren der Unsicherheit für unsere Unternehmen, die bereits einem sehr harten Wettbewerb ausgesetzt sind. Vor diesem Hintergrund sind starke vertragliche Beziehungen mit der Europäischen Union (EU) umso wichtiger.
Genauso wichtig ist es, das jüngste Ergebnis der Verhandlungen mit der EUExterner Link mit kühlem Kopf zu analysieren. Es steht viel auf dem Spiel. Die EU ist und bleibt aufgrund der geografischen, sprachlichen und kulturellen Nähe zur Schweiz unser wichtigster Handelspartner. Auch wenn der Handel erfreulicherweise insbesondere mit den USA und China stark zugenommen hat.
Die Erosion des bilateralen Wegs stoppen
Wir stehen an einem Scheideweg. Die bilateralen Abkommen verlieren an Substanz und seit mehreren Jahren werden sie nicht mehr aktualisiert. Es können keine neuen Abkommen abgeschlossen werden, solange die sogenannten institutionellen Fragen (Mechanismen zur Streitbeilegung und Übernahme von EU-Recht) nicht geklärt sind.
Im Klartext heisst das, dass wir langsam aber sicher die wichtigen Wettbewerbsvorteile verlieren, die uns die vor 25 Jahren besiegelte Partnerschaft mit der EU bringt. Wir können auch das Stromabkommen, das für unsere Energieversorgung im Winter von grösster Bedeutung ist, nicht abschliessen.
Die bis anhin nicht erfolgte Aktualisierung der Abkommen mit der EU hat konkrete Folgen. Beispielsweise für die Industrie für Medizinprodukte. Früher genügte eine einzige Zulassung für die Schweiz und ganz Europa. Seit einigen Jahren müssen Produkte zumindest in einem EU-Mitgliedstaat zertifiziert werden, auch solche, die bereits im Handel waren.
Dies verursacht Kosten, einen hohen bürokratischen Aufwand und eine wesentlich längere Zeit bis zur Markteinführung. Einige Unternehmen sahen sich gezwungen, einen Teil ihrer Aktivitäten etwa nach Deutschland zu verlagern oder nicht länger in der Schweiz zu investieren.
In zwei Jahren werden die Maschinenindustrie (für bestimmte Produkte), die Pharmaindustrie und die Bauindustrie das gleiche Schicksal erleiden, wenn das Abkommen über technische Handelshemmnisse nicht aktualisiert wird. Es geht um 60% unserer Exportindustrie!
Doch die gesamte Schweizer Wirtschaft ist der Erosion des bilateralen Wegs ausgesetzt, genauso wie die Konsumenten und Bürger. Wir haben von den Bilateralen weitgehend profitiert.
Ohne den erleichterten Zugang zum europäischen Markt und das Abkommen über die Personenfreizügigkeit hätten wir kein so starkes Wirtschaftswachstum, keine so nachhaltige Zunahme von Arbeitsplätzen und keine konstanten Lohnerhöhungen gehabt.
Seit 1999 ist das Bruttoinlandprodukt pro Kopf um 25 Prozent gestiegen; der Staat – auf seinen Ebenen Bund, Kanton, Gemeinden – durfte einen starken Anstieg der Steuereinnahmen verzeichnen.
Von dieser wirtschaftlichen Dynamik und der soliden Kaufkraft profitierten die auf dem heimischen Markt tätigen Unternehmen, vom Bäcker über den Dienstleistungssektor bis hin zum Zulieferer für Exportunternehmen.
Andererseits konnten alle Sektoren Produkte, Ersatzteile und vieles weitere Dinge aus der EU zu günstigeren Preisen importieren.
Das Paket der Bilateralen III ist im Interesse der Schweiz
Wird das neue Paket von Abkommen mit der EU zu einem Verlust der Souveränität führen, wie von einigen Seiten zu hören ist? Wird die Schweiz das gesamte EU-Recht ungefragt übernehmen müssen? Wird die Schweiz dem Europäischen Gerichtshof unterstellt? Ist der Lohnschutz ausreichend gewährleistet?
Diese Fragen sind legitim. Auch für Economiesuisse kommt es nicht in Frage, dass unsere Souveränität und unsere halbdirekte Demokratie geopfert werden.
Doch schauen wir auf die Fakten. Auf der Grundlage der zum jetzigen Zeitpunkt verfügbaren Informationen ist Economiesuisse der Ansicht, dass das Verhandlungsergebnis im Interesse unserer Wirtschaft und des Landes liegt.
Unsere Verhandlungsführer haben zahlreiche wichtige Zugeständnisse und Ausnahmen durchgesetzt – weit mehr als beim Rahmenabkommen. Einige Beispiele dafür:
- Die Schweiz kann – im Alleingang – entscheiden, ob sie die Schutzklausel aktivieren will, um die Zuwanderung aus den EU/EFTA-Staaten im Falle schwerwiegender sozialer oder wirtschaftlicher Probleme zu begrenzen. Die Bedingungen und Massnahmen werden ausschliesslich von der Schweiz festgelegt und gesetzlich verankert. Dies ist eine konkrete Antwort auf die Unzufriedenheit, die von unseren Mitbürgern zum Ausdruck gebracht wurde.
- Die dynamische Rechtsangleichung betrifft nur 8 von über 140 Abkommen – mit wichtigen Ausnahmen und unter dem Vorbehalt der Zustimmung der Bundesbehörden oder sogar des Volks bei einem Referendum. Im Falle einer Ablehnung kann die EU Ausgleichsmassnahmen ergreifen, die jedoch verhältnismässig sein müssen. Zur Erinnerung: Die dynamische Rechtsübernahme ist bereits im Luftverkehrsabkommen (2002) und im Abkommen Schengen/Dublin (2008) enthalten. Das hat nie Probleme verursacht. Neu ist, dass die Schweiz wie die EU-Mitgliedstaaten bei der Ausarbeitung und Weiterentwicklung von Gesetzen, die sie betreffen, systematisch konsultiert wird.
- Der Mechanismus zur Beilegung von Streitigkeiten entspricht den üblichen Grundsätzen des Völkerrechts. Wenn im Streitfall im Gemischten Ausschuss keine politische Lösung gefunden werden kann, kann das paritätische Schiedsgericht angerufen werden. Das Schiedsgericht wird den Europäischen Gerichtshof nur dann konsultieren, wenn es um die Auslegung von EU-Recht geht, und auch nur dann, wenn es notwendig ist. Sehr wichtig: Mit diesem Mechanismus kann sich die Schweiz verteidigen, wenn die EU unverhältnismässige Ausgleichsmassnahmen ergreift, was heute nicht möglich ist.
- Die EU anerkennt – zum ersten Mal offiziell – die Notwendigkeit, die Löhne in der Schweiz zu schützen und flankierende Massnahmen zu ergreifen. Die Schweiz hat von der EU in den Verhandlungen sehr wichtige Zugeständnisse erhalten, darunter die so genannte Non-Regression-Klausel. Demnach muss die Schweiz Anpassungen oder neue Entwicklungen des EU-Entsenderechts, die das Schweizer Schutzniveau betreffend die Arbeits- und Lohnbedingungen verschlechtern würden, nicht übernehmen. Der Ball liegt folglich bei den Schweizer Gewerkschaften und Arbeitgebern, welche die technischen Massnahmen aushandeln. Eine Einigung scheint auf gutem Wege zu sein.
- Die Gefahr des Sozialtourismus ist gebannt. Wie in der Vergangenheit gilt die Personenfreizügigkeit nur für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. EU-Bürger, die wegen eines Verbrechens verurteilt wurden, können weiterhin ausgewiesen werden.
Mit den Bilateralen III werden wir die volle und uneingeschränkte Teilnahme der Schweiz an den europäischen Forschungsprogrammen, den wichtigsten der Welt, sicherstellen. Dies ist ein Garant für Innovation, von der alle unsere Unternehmen direkt und indirekt profitieren.
Keine bessere Alternative
Economiesuisse wird in der Ende Juni beginnenden Vernehmlassung auf der Grundlage der Vertragstexte definitiv Stellung zu den Bilateralen III beziehen.
Eines ist jedoch schon jetzt klar: Der bilaterale Weg muss weitergeführt und weiterentwickelt werden. Er ist ein Bollwerk gegen einen Beitritt zur EU oder zum EWR und gegen die Isolation. Ein Freihandelsabkommen würde bei weitem nicht die gleichen Vorteile bieten.
Der bilaterale Weg, der nur der Schweiz zur Verfügung steht, ermöglicht es uns, in bestimmten Bereichen unserer Wahl sektoriell am Binnenmarkt teilzunehmen und gleichzeitig unsere Unabhängigkeit, unsere direkte Demokratie und unseren Föderalismus zu bewahren.
In diesen unruhigen Zeiten sind unsere Unternehmen und unser Land mehr denn je auf eine starke und stabile Partnerschaft mit der EU angewiesen.
Die in diesem Artikel geäusserten Meinungen sind ausschliesslich die der Autorin und spiegeln nicht unbedingt die Position von SWI swissinfo.ch wider.
>> Lesen Sie auch die Meinung von François Schaller, Journalist und Vorstandsmitglied von Autonomiesuisse:

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Editiert von Samuel Jaberg / ptur; Übertragung aus dem Französischen: Gerhard Lob

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