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«Dieses Urteil könnte ein Eigentor für grüne Ideen sein»

Die Klimaleibe Schweiz mit Anne Mahrer, rechts, Co-Präsidentin der Klimaleibe und Rosmarie Wydler-Waelti, Co-Präsidentin der Klimaleibe, kommen mit den Anwälten vor der Veröffentlichung der Entscheidung der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte über die Klage der Klimaschützerinnen Schweiz bei einer öffentlichen Anhörung vor der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) am Dienstag, den 9. April 2024, in Straßburg, Frankreich, an
Die Verurteilung der Schweiz wegen Untätigkeit im Klimabereich durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hat das Interesse vieler internationaler Medien geweckt. Keystone / Jean-Christophe Bott

Die politischen Reaktionen auf die Verurteilung der Schweiz wegen Untätigkeit im Klimabereich sind gemischt. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte könnte der konservativen Rechten in die Hände spielen, sagt der Politologe Marc Bühlmann.

«Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ist ein Skandal», reagierte die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) am Dienstag in einer PressemitteilungExterner Link. Die grösste Partei des Landes kritisierte die Verurteilung der Schweiz wegen Verletzungen der Menschenrechte im Umweltbereich scharf. Sie prangerte eine «Einmischung fremder Richter» an und forderte gar den Austritt der Schweiz aus dem Europarat.

Die linken Parteien begrüssten den Sieg der «Klimaseniorinnen», der Verein, der den Fall bis zum EGMR gebracht hatte. Die Präsidentin der Grünen, Lisa Mazzone, sprach von einem «historischen SiegExterner Link«, der in seiner Bedeutung mit dem Pariser Klimaabkommen vergleichbar sei. Die Sozialdemokraten sprachen von einer «Klatsche für den Bundesrat und seine Untätigkeit im Klimabereich».

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Obwohl es noch schwierig ist, die tatsächlichen Auswirkungen des Urteils auf die Klimaschutzmassnahmen der Schweiz abzuschätzen, wird das Urteil die kommenden politischen Debatten prägen, sagt der Politologe Marc Bühlmann, Direktor der Plattform Année Politique Suisse.

SWI swissinfo.ch: Die politische Linke begrüsst den Entscheid des EGMR, die politische Rechte ist der Meinung, dass der Entscheid nichts ändern wird. Was denken Sie?

Marc Bühlmann: Die Diskussion ist nicht neu. Die SVP vertritt seit langem die Auffassung, dass das nationale Recht dem internationalen Recht übergeordnet ist. Die gleichen Debatten gab es 2018 bei der eidgenössischen Abstimmung über die Selbstbestimmungsinitiative, die dieses Prinzip in der Verfassung verankern wollte.

Der EGMR ist weit davon entfernt, die Schweiz zu etwas zwingen zu wollen. Aber er ist ein wichtiger Akteur und sein Urteil wird einen Einfluss auf die Schweizer Politik haben.

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Kann man erwarten, dass dieses Urteil zu konkreten Fortschritten im Klimaschutz beitragen wird?

Dieses Urteil wird in die politischen Diskussionen über die globale Erwärmung einfliessen. Die Linke wird es sicherlich als Argument nutzen, um die Dinge voranzutreiben. Es wird mehr Druck geben. In 10 oder 15 Jahren wird es jedoch schwierig sein festzustellen, ob die Entscheidung des EGMR tatsächlich einen Einfluss auf die Klimapolitik hatte oder ob die Entscheidungen ohnehin getroffen worden wären.

Marc Bühlmann sitzt im schwarzen Pullover und mit grauem Schal an seinem Schreibtisch
Marc Bühlmann ist Direktor der Plattform Année Politique Suisse und Professor an der Universität Bern. SRF

Ist es problematisch, dass der EGMR in die Klimapolitik der Schweiz eingreift, die an der Urne demokratisch legitimiert wurde?

Nein, das glaube ich nicht. Die Richter in Strassburg haben der Schweiz nicht gesagt, wie sie das Problem lösen soll. Sie mischen sich nicht in die nationale Politik ein. Es liegt nun am Bund, auf politischer Ebene Lösungen zu finden. Die Rechte und die Linke werden nach dieser Verurteilung nicht plötzlich ihre Positionen ändern. Die Diskussionen werden sich also weiterhin um die Klimapolitik drehen. Das Urteil ist jedoch ein neues Argument, das die Debatte weiter anheizen wird.

Während die Schweiz verurteilt wurde, wies das EGMR am selben Tag ähnliche Klagen gegen Frankreich und Portugal ab. Wie interpretieren Sie das?

Ich glaube nicht, dass man dies politisch interpretieren kann. Die Richter treffen keine politischen Entscheidungen, sondern versuchen zu beurteilen, ob rechtlich gesehen diese verschiedenen Klagen zulässig sind oder nicht.

Die SVP hat scharf auf die Verurteilung der Schweiz durch den EGMR reagiert und fordert gar den Austritt der Schweiz aus dem Europarat. Ist diese Forderung realistisch?

Nein, es gäbe keine politische Mehrheit, die diesen Vorschlag unterstützen würde. Schliesslich vertrat die SVP diese Idee auch mit der Selbstbestimmungsinitiative. Um das Schweizer Recht über das internationale Recht zu stellen, wollte sie, dass die Schweiz diese internationalen Abkommen kündigt. Das Ergebnis: Nicht einmal ein Drittel der Bevölkerung unterstützte die Initiative. Heute würde sie nach der Entscheidung des EGMR vielleicht mehr Unterstützung erhalten, aber das ist kein dauerhafter Trend.

Allerdings kann die konservative Rechte das Strassburger Urteil nun als konkretes Beispiel für die «Einmischung fremder Richter» verwenden, die sie immer angeprangert hat. Könnte dieser Entscheid der SVP in die Hände spielen?

Wahrscheinlich, denn die SVP ist sehr professionell darin, alles, was passiert, mit ihrer politischen Agenda zu verknüpfen. Das Urteil könnte ein Eigentor für grüne Ideen sein. Die konservative Rechte wird es sicherlich in ihrer Kampagne gegen die Reform des Energiegesetzes zum Ausbau der erneuerbaren Energien, die am 9. Juni zur Abstimmung kommt, nutzen. Sie wird argumentieren, dass die Schweizer ihre Stimme erheben müssen, um sich nicht vom Ausland etwas vorschreiben zu lassen. Einige Leute könnten versucht sein, das Gesetz abzulehnen, um ein Zeichen zu setzen.

Besteht die Gefahr, dass dies zu neuen Blockaden in den Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU führt?

Die SVP wird das Urteil des EGMR wahrscheinlich als Beispiel für ausländische Einmischung in die Angelegenheiten der Schweiz verwenden. Jedoch könnte es auch die Linke zu ihrem Vorteil nutzen, indem sie sagt, dass die Schweiz manchmal Hilfe von aussen braucht, um die Einhaltung der Menschenrechte durchzusetzen.

Aber welche Seite wird ihr Argument am besten durchsetzen können?

Die Abstimmungen und Wahlen werden es uns zeigen. Dieses Urteil als positives oder negatives Symbol zu verwenden, ist eine politische Kunst. Wir werden sehen, wer sie am besten beherrscht. Im Moment hat man jedoch das Gefühl, dass es der SVP gelingen wird, mehr Nutzen daraus zu ziehen, da ihre Reaktion bereits mehr mediale Wellen schlägt.

Lesen Sie mehr über das Urteil des EGMR vom Dienstag:

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Editiert von Samuel Jaberg, Übertragung aus dem Französischen: Claire Micallef

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