«Ich bin ein Online-Warrior»
Er ist 93 Jahre alt und macht in einer politischen Bewegung von engagierten Jungen mit: Pierre Rom. Als so genannter Online Warrior gehört der hellwache Berner zum "Heer der Kommentarschreiber", das als "Geheimwaffe" der Operation Libero gilt. Seine Mission: Anschreiben gegen den Hass im Netz.
Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch.
«Schriftlich kann ich mich besser ausdrücken als mündlich», sagt Pierre Rom und schiebt der Autorin zu Beginn des Gesprächs im Restaurant in der Berner Altstadt ein zweiseitiges Argumentarium zu.
Darauf hat er seine Einstellung in der Politik festgehalten. Parteien seien nicht mehr in der Lage, über ihr Umfeld hinaus zu mobilisieren, lautet ein Punkt. Diese Aufgaben können und sollen jetzt junge Bewegungen übernehmen wie Operation Libero. Deswegen sei er beigetreten.
Pierre Rom, Jahrgang 1924, immer noch aktives Mitglied der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP) der Stadt Bern, deren Sekretär er früher war, ist ein «Online-Warrior» der Operation LiberoExterner Link. Das «Heer von Kommentarschreibern» gilt als eine der Geheimwaffen der Bewegung, die aus Studentenkreisen hervorgegangen ist. Sie mischt mit vielen jungen Freiwilligen, liberalem Gedankengut und geschickten Social-Media-Kampagnen seit einigen Jahren die Schweizer Politik auf.
Ihre «Online-Warriors» wirken in den Kommentarspalten von Medien mit und debattieren auf den Facebook-Fanpages von politischen Gegnern. Dieser «Informationskrieg» im Netz ist spätestens seit Ausbruch des Ukrainekonflikts im Frühling 2014 ein bekanntes PhänomenExterner Link.
Gut organisierte «Troll-Armeen» im Dienste beider Konfliktparteien bekämpften sich digital und machten auch vor den Kommentarspalten europäischer Medien nicht halt. Eine Taktik, von der nun auch vermehrt Parteien und Organisationen hierzulande Gebrauch machen.
Geboren ist die Idee bei den Liberos in dem Moment, als sie selbst Zielscheibe wütender Schreiberlinge geworden sind. «Befürworter der Durchsetzungsinitiative haben unsere Seite mit Postings geflutet», sagt ihr Social-Media-Experte Adrian Mahlstein. Daraufhin habe man beschlossen, mit den gleichen Waffen zurückzuschlagen.
Kleiner Aufwand, grosser Ertrag
Diese Form des politischen Engagements ist sehr niederschwellig, kann aber grosse Wirkung entfalten. Denn die Forschung zeigt, dass die in Onlinekommentaren vertretenen Äusserungen tatsächlich als Abbild der Mehrheit aufgefasst werdenExterner Link. Und nicht als Meinung einer Minderheit, die sich ganz besonders aktiv beteiligt beim politischen Diskurs.
In der Forschung nennt man diese Täuschungsmanöver «Astroturfing»Externer Link. Es soll dabei eine öffentliche Meinung in eine bestimmte Ausrichtung suggeriert werden. «Dabei ist das vielleicht ein Einzelner, der hundertfach kommentiert. Das verzerrt die öffentliche Wahrnehmung enorm,» sagt der Politologe Lukas Golder vom Forschungsinstitut gfs.bern.
Die Rechte brüllt lauter
Eine Studie Externer Linkzeigt ausserdem, dass sich politisch rechtsgerichtete Personen aktivere Kommentarschreiber sind, während sich Personen aus dem linken Spektrum eher mit «Likes» begnügen.
Diesem Trend möchte man bei der Operation Libero mit Argumenten und liberalem Gedankengut entgegenwirken. Nicht durch von oben verordnete Propaganda-Floskeln, wie bei ausländischen staatlichen und/oder bezahlten «Troll-Fabriken»Externer Link. Sondern mit Argumentationshilfen. Der politische Diskurs soll mit Fakten und nicht mit Meinungsmache gefüttert werden.
«Uns geht es um die Leute, die mitlesen. Nicht um die Trolls. Wir haben festgestellt, dass teilweise mit sehr wenig Wissen über Vorlagen der Migration argumentiert wird. Und wir haben gesehen, dass die Polterer eine Bühne für sich alleine haben, weil alle anderen vergrault waren. Das wollten wir ändern», sagt Max Obrist, so etwas wie der «Feldherr» der Online-Warrior-Gruppe, gegenüber swissinfo.ch.
Dicke Haut gefordert
Dafür tauschen sich Warriors auf dem Kommunikations-Tool «Slack» aus. Sie geben sich gegenseitig Feedback auf die Antworten in den Kommentarspalten. Und spenden einander Trost, denn das Debattenklima ist oft rau und ruppig. Diese «Psychohygiene» ist wichtig, denn der Kampf gegen den Hass im Netz kann zermürbend sein. Da ist gegenseitige Unterstützung motivierend.
Das Freiwilligen-Heer besteht nicht nur aus so genannten Digital Natives. Auch ältere Semester engagieren sich. Der 93-jährige Berner Pierre Rom ist das beste Beispiel dafür. «Ich bin schon alt, ich habe aber das Stimmrecht, deswegen will ich auch noch etwas zu sagen haben. Es ist falsch, sich jetzt zurücklehnen und zu geniessen», sagt Rom.
Das digitale Schlachtfeld
Seine Kampfzone heisst Facebook. Er bewegt sich täglich auf dem grössten sozialen Netzwerk. Dort pflegt er ein politisch diverses Freundesnetzwerk, er streitet mit links und rechts. Bei diesem Thema wird Rom lauter: «Wenn jemand Sachen behauptet, die nachweislich falsch sind, reagiere ich.» Falsche Tatsachenbehauptungen, das kann der Freisinnige nicht ausstehen.
Die Autorin
Adrienne Fichter leitete die Social Media-Redaktion der NZZ und arbeitet heute als freie Netz-Journalistin.
Für #DearDemocracy von swissinfo.ch beschäftigt sie sich mit digitaler direkter Demokratie, also Einfluss und Auswirkungen der digitalen Technologie auf deren System und Abläufe.
Im Vordergrund stehen der Einfluss von Social Media auf Wahlen und Abstimmungen; digitale Bürgerbeteiligung; eGovernment; Civic Tech und Open Data.
In Zeiten von virulenten Fake News, Bots und exzessiver Twitter-Politik Donald Trumps wird die politische Auseinandersetzung mit der Digitalisierung immer wichtiger.
Wir beleuchten bei #DearDemocracy die Trends, Chancen, Gefahren und politischen Antworten darauf.
Rom investiert mehrere Stunden mit der Recherche, um seine Facebook-Beiträge mit Fakten und Argumenten zu untermauern. Solange die Operation Libero eine dynamische Kampagnen-Plattform für Anliegen des Rechtsstaats und gesellschaftsliberale Ideen bleibe, möchte er weiterhin dabei sein. Das sei Bestandteil ihres Erfolgsrezepts, meint Rom. Die Bewegung dürfe nie eine Partei werden.
Er habe deswegen Frankreichs neuen Präsidenten Emmanuel Macron auf Facebook «in alle Richtungen verteidigen müssen.» Neue koalitionsfähige Bewegungen wie dessen «En Marche!» seien der Schlüssel für die Zukunft, ist Pierre Rom überzeugt.
Auf der Überholspur
Die Zahlen auf Social Media geben ihm recht. Viele rechtspopulistische Parteien wie die deutsche AfD, die britische Ukip oder der Front National in Frankreich verfügen über eine dreimal so hohe Anhängerschaft im Netz als die etablierten Regierungsparteien. Doch anders als in Deutschland, Frankreich oder England haben die Liberos hierzulande mit über 23’200 Fans (Stand 1.6.2017) die Parteien am linken und rechten Pol, die Sozialdemokraten (SP) und die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) innert kürzester Zeit überholt.
Die Schweiz stellt in dieser Hinsicht europaweit eine Ausnahme dar. Denn gerade im lärmigen Social-Media-Umfeld haben Populisten jeglicher Couleur meist die Oberhand. «Die Kunst ist es, komplexe Sachvorlagen zu reduzieren und dabei gemässigte Positionen digital gewinnbringend zu vermitteln,» sagt der Politologe Lukas Golder. Die direkte Demokratie hilft. Denn Auseinandersetzungen auf Social Media scheinen mehr zu interessieren als die digitale Kommunikation von Parteien.
Viele Abstimmungskomitees agieren professioneller im Einsatz von multimedialen Formaten, wie die hohe Mobilisierung gegen die Durchsetzungsinitative der SVP 2016 oder die Unternehmenssteuerreform III gezeigt hat. Gifs, Videos und Faktencheck-Infografiken gehören immer mehr zum Standardrepertoire in der digitalen Abstimmungsschlacht.
Sollte die Bedeutung von Facebook und Konsorten als Arena der politischen Meinungsbildung in Zukunft zunehmen, sind die Liberos mit Pierre Rom und den anderen «Kommentarkriegern» gerüstet.
Die Autorin auf Twitter: @adfichter Externer Link
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