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«Diktatorischer statt demokratischer»

Mehr Gewalt statt mehr Frieden, Freiheit und Entwicklung: So wirkt sich Sotschi 2014 auf die Menschen im benachbarten Pulverfass Nordkaukasus aus. Dieses Fazit ziehen Rob Hornstra und Arnold van Brugge in ihrem "Sotschi-Projekt", das grosse Beachtung findet.

Seit 2009 haben die beiden holländischen Journalisten die Region jedes Jahr besucht. Weil der Nordkaukasus und die von ihm ausgehende Gefahr von Bombenanschlägen so nah bei Sotschi liege, sei es wichtig, die Situation dort genauer anzusehen, sagt Hornstra im Gespräch mit swissinfo.ch.

swissinfo.ch: Weshalb haben Sie 2009 das «Sotschi-Projekt» gestartet?

Rob Hornstra: Als Sotschi den Zuschlag erhielt, wussten wir sofort, dass Russland die Spiele als grosse Propaganda-Maschine nutzen wird. Es wollte der Welt zeigen, dass es ein reiches, prosperierendes Land ist, das die Krisen der 1990er- und frühen 2000er-Jahre überwunden hat.

Wir wollten zeigen, was die Spiele für Auswirkungen auf die Umgebung und die ganze Region des Nordkaukasus haben, gerade, was den Alltag der Menschen dort betrifft.

swissinfo.ch: Wir kennen den Nordkaukasus meist nur als Region gewalttätiger Konflikte. Wie sieht die Landschaft aus?

R.H.: Es ist eine Region mit vielen Gesichtern, reich an unheimlich schönen und authentischen Orten und Menschen mit verschiedenen Ethnien und Kulturen. Aber hier fangen auch schon die sehr komplexen Probleme an. Teile des Nordkaukasus versuchen schon seit 200 Jahren, sich von Russland zu befreien und eigenständig zu werden.

Diese Bestrebungen haben zugenommen, seit Sotschi den Zuschlag erhielt. Wir wollten ergründen, weshalb die Konflikte in der Region so gewalttätig sind, woher diese Gewalt und die antirussische Einstellung der Bewohner stammt. Dies ist wichtig, weil der Nordkaukasus und die von ihm ausgehende Gefahr von Bombenanschlägen so nah bei Sotschi liegt.

swissinfo.ch: Wie hat der Zuschlag der Spiele an Sotschi konkret die Lage in der Region verschlechtert?

R.H.: Man braucht nur die Statistiken auf den Internetseiten von Menschenrechts-Organisationen und unabhängigen Journalisten-Netzwerken zu studieren. Sie zeigen, dass die Zahl der Menschen, die dort bei Konflikten getötet oder verwundet wurden, klar zunimmt.

Mit dem Zuschlag versprach Russland, die Region zu beruhigen und sie wirtschaftlich zu entwickeln, etwa mit Investitionen in Skigebiete. Das einzige, was zugenommen hat, ist der gewalttätige Druck auf die Bewohner dort.

swissinfo.ch: Wie haben Sie sich zwischen diesen verschieden Konfliktgruppen bewegt?

R.H.: Wir versuchten stets, gegenüber allen Seiten völlig unabhängig und offen zu sein. Wir wollten mit allen sprechen und alle anhören, von den Russen bis zu den Aufständischen orthodoxer islamischer Prägung wie den Salafisten.

Uns war wichtig, hinzuschauen. Schaut man weg, gibt man den Russen einen Freipass, dort zu machen, was sie wollen.

swissinfo.ch: Wie ernst nehmen Sie die Drohungen für Anschläge während der Spiele?

R.H.: Die sind schwer einzuschätzen. Die Russen werden alles unternehmen, um die Aufständischen von Sotschi fernzuhalten. Attacken in Wolgograd oder sogar Moskau sind eher denkbar.

swissinfo.ch: Was ist die wichtigste Erfahrung, die sie beim Projekt Sotschi gewonnen haben?

R.H.: Als Russland, das ich schon recht gut kannte, 2007 die Spiele erhielt, hoffte ich, dass es sich öffnet, indem es die Welt nach Sotschi einlädt. Es würde demokratischer und für alle Menschen besser werden. Das Gegenteil ist eingetreten. Das Regime wurde diktatorischer und unterdrückerischer.

Es will aber versuchen, der Welt mit den Hochglanzstadien vorzuführen, wie modern es ist. Das macht unser Projekt nur noch dringender. Die Menschen, welche die Spiele sehen, sollen auch sehen, wie diese Spiele organisiert wurden.

Renat Künzi, swissinfo.ch

Bilder aus: The Sochi Project, An Atlas of War and Tourism in the Caucasus, von Rob Hornstra und Arnold van Bruggen. Aperture-Verlag 2013.

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