Zuwanderung: unmögliche Umsetzung einer Volksinitiative
Noch nie hat die direkte Demokratie der Schweiz das Land in ein solches Dilemma gestürzt. Seit dem 9. Februar 2014 versucht die Schweiz, die Beschränkung der Zuwanderung – wie sie vom Stimmvolk beschlossen wurde – mit dem Personenfreizügigkeits-Abkommen zwischen der Schweiz und der EU zu vereinbaren. Drei Monate vor Ablauf der Umsetzungsfrist fasst swissinfo.ch die vergangenen Episoden zusammen und blickt auf jene, die noch kommen dürften.
Wie ist es so weit gekommen?
Am 9. Februar 2014 sagt das Schweizer Stimmvolk Ja zur «Initiative gegen MasseneinwanderungExterner Link» der Schweizerischen Volkspartei (SVP), die verlangt, dass die Schweiz die Zuwanderung mit jährlichen Kontingenten und Höchstzahlen eigenständig steuert.
Knapper Ausgang
Die Initiative wurde mit knapper Mehrheit angenommen. Bei 2,9 Millionen abgegeben Stimmen (die Stimmbeteiligung betrug 57%) setzte sie sich mit einem Vorsprung von 19’302 Stimmen oder 0,7% des Stimmentotals durch.
Dass die Initiative das Personenfreizügigkeits-Abkommen mit der Europäischen Union (EU) verletzt, war seit der Lancierung der Initiative klar. Aber die Schweiz kennt auf eidgenössischer Ebene weder ein Verfassungsgericht noch sonstige vorhergehende Kontrollmechanismen für Initiativen. Während die Linke und Wirtschaftskreise vor der drohenden Blockierung der Abkommen mit der EU warnten, wurde diese von der SVP kleingeredet oder sogar abgestritten.
Fälligkeitsfrist
Eine Annahme einer Initiative hat stets eine entsprechende Verfassungsänderung zur Folge. Um die Verfassungsbestimmung umzusetzen, muss ein Gesetz ausgearbeitet werden, was seine Zeit braucht. Die MutterschaftsversicherungExterner Link, die seit 1945 in der Bundesverfassung festgehalten ist, wurde erst 2004 umgesetzt. Auf die Umsetzung der AlpeninitiativeExterner Link, die eine Verlagerung des alpenquerenden Transitverkehrs von der Strasse auf die Schiene verlangt und 1994 angenommen wurde, müssen die Umweltschützer immer noch warten.
Die SVP wird nicht so viel Geduld haben: Ihre Initiative, die im Verfassungsartikel 121a Eingang fand, verlangt ausdrücklich ein Ausführungsgesetz – in diesem Fall eine Änderung des Ausländergesetzes – innerhalb von drei Jahren nach Annahme der Initiative. Andernfalls müsse der Bundesrat (Regierung) die Ausführungsbestimmungen vorübergehend auf dem Verordnungsweg erlassen.
Wo steht man nach zwei Jahren und neun Monaten?
Auf dem Nullpunkt, oder fast. Für die EU ist die Personenfreizügigkeit nicht verhandelbar, heute nicht mehr als gestern. In Brüssel, wo man den Austritt Grossbritanniens umsetzen muss, hat man grössere Sorgen.
Die Personenfreizügigkeit ist Teil eines Pakets von bilateralen Verträgen zwischen der Schweiz und der EU, die mit einer sogenannten Guillotine-Klausel verbunden sind: Die Kündigung eines Abkommens hat zwangsläufig die Aufhebung aller anderen zur Folge. Wenn sie nicht an dieses Szenario glauben will, muss die Schweiz eine Lösung zwischen Personenfreizügigkeit und Kontingenten für die Zuwanderung finden. Mit anderen Worten: den Pelz waschen, ohne den Bären nass zu machen.
Parlamentarische Bastelei
Im September hat der Nationalrat (grosse Kammer) mit einer knapper Mehrheit von 98 zu 93 Stimmen einem Umsetzungsvorschlag namens «Inländervorrang light» zugestimmt. Die Schweiz müsse alles unternehmen, um die lokalen Arbeitskräfte einzusetzen. Dazu gehöre auch, die Arbeitgeber zu verpflichten, ihre freien Stellen den Regionalen Arbeitsvermittlungszentren zu melden, bevor sie im Ausland rekrutierten. Und falls dies nicht genügen sollte, könnte die Regierung restriktivere Massnahmen ergreifen, aber ohne Höchstzahlen und Kontingente.
Ein Gesetz, aber schnell!
Die Praxis, eine Umsetzungsfrist festzulegen, ist fast gleich alt wie die Volksinitiative selbst. Von den 22 Initiativen, die seit 1893 angenommen wurden (von insgesamt 208 Initiativen), verlangte ein Drittel eine Frist. Aber als es darum ging, 1908 den Absinth und 1920 die Spielcasinos zu verbieten (beide Verbote wurden inzwischen wieder aufgehoben) oder 1994 den 1. August zum allgemeinen Feiertag zu erklären, war die Arbeit der Legislativen relativ einfach.
Komplizierter wurde die Umsetzung bei der Zweitwohnungsinitiative, die 2012 angenommen wurde. Zur Umsetzung dieses Volksbegehrens, das den Bau von Zweitwohnungen beschränken wollte, sind aber innerhalb von zwei Jahren eidgenössische und kantonale Gesetze erlassen worden. Die Alpeninitiative hatte eine Umsetzungsfrist von 10 Jahren vorgesehen, ist aber immer noch nicht umgesetzt.
Während wirtschaftsnahe Kreise diesen Vorschlag begrüssen, spricht die SVP von Verrat des Volkswillens. Anfang November redete die Partei auch den Vorschlag der vorberatenden Kommission des Ständerats (kleine Kammer) schlecht, die eine Verschärfung des Inländervorrangs vorsieht. Danach hätten Arbeitgeber nicht nur eine Melde-, sondern auch eine Anhörungs- und Begründungspflicht. Die kleine Kammer wird ab dem 30. November über den Vorschlag beraten, der auch wegen seines administrativen Aufwands für die Arbeitgeber kritisiert wird.
Das ist der Stand der Dinge vor der Wintersession. Wie könnte es weitergehen? Denkbar sind folgende Szenarien mit vielen Unbekannten.
Die Frist wird nicht eingehalten
Falls die Ständeräte ihre Kommission nicht im Stich lassen, gibt es Differenzen zwischen den beiden Kammern. Das Geschäft ginge zurück an den Nationalrat und würde zwischen den beiden Kammern pendeln bis die Differenzen bereinigt wären. Das ist die Regel im Zweikammersystem der Schweiz: ein Gesetzesentwurf kann erst verabschiedet werden, wenn er von beiden Kammern im gleichen Wortlaut gutgeheissen wird. Die übernächste Session findet vom 27. Februar bis 17. März 2017 statt, also nach der Umsetzungsfrist. Aber keine Panik: Im August 2015 sagte Aussenminister Didier Burkhalter, es sei besser, eine gute Lösung zu suchen, als sich auf die Frist zu versteifen.
Aber wird die Lösung des Schweizer Parlaments auch für Brüssel gut genug sein? Am 25. Oktober warnten gewisse Mitgliedstaaten beim Treffen des Gemischten Ausschusses Schweiz-EU vor einer Diskriminierung ihrer Staatsangehörigen, sogar im Fall des «Inländervorrangs light».
Die SVP wird sich festbeissen
Sicher ist, dass sich die SVP gegen alle Lösungen stemmen wird, die nicht dem Wortlaut des Artikels 121a entsprechen. Die Partei hat noch nicht gesagt, ob sie das Referendum gegen eine Gesetzesrevision ergreifen werde. Aber sie droht bereits mit einer Initiative gegen die Personenfreizügigkeit.
Sechs Gesetze insgesamt
Mit einer Revision des Ausländergesetzes könnte ein grosser Teil des Verfassungsartikels 121a umgesetzt werden. Der aktuelle Gesetzesentwurf würde aber die Änderung von fünf weiteren Gesetzen bedingen, insbesondere des Asyl-, des Arbeits- und des Arbeitslosengesetzes.
Wann tritt es in Kraft?
Wenn das Paket einmal geschnürt ist, muss die Referendumsfrist von 100 Tagen abgewartet werden. Falls ein Referendum ergriffen würde, könnte das Volk nicht vor September 2017 darüber befinden (die Abstimmungsdaten werden im Voraus festgelegt). Wahrscheinlich müssten noch die Ausführungsbestimmungen angepasst werden. Danach bestimmt der Bundesrat das Datum des Inkrafttretens. Dies dürfte kaum vor 2018 der Fall sein.
Alles nochmals?
Das Feuilleton «Wie setzt man den Artikel 121a in ein Gesetz um?» wird sich um einige Jahreszeiten in die Länge ziehen. Aber noch bevor dessen Schlusswort gesprochen ist, wird ab Frühling 2017 unter dem Titel «RASA und ihr Gegenvorschlag» eine neue Serie die Bildschirme erobern.
Die ersten Episoden wurden bereits gespielt: Im Dezember 2014 begann eine Gruppe Intellektueller Unterschriften für eine Volksinitiative mit dem Titel «Raus aus der Sackgasse!» (RASA) zu sammeln. Der Wortlaut der Initiative ist kürzer als ihr Titel: «Artikel 121a und 197 Ziff. 11 Aufgehoben». Ende Oktober 2015 waren die erforderlichen Unterschriften gesammelt und die Initiative für gültig erklärt worden.
Ein Jahr später empfiehlt der Bundesrat RASA zur Ablehnung, stellt aber einen direkten Gegenvorschlag in Aussicht. Was die Regierung genau vorschlagen will, wird man erst im April des nächsten Jahres erfahren.
«Immer in Bewegung»
Fazit: Keine Abstimmung vor September 2017. Abgesehen davon liegt vieles im Ungewissen:
Das vorausgehende Feuilleton kann nahe oder weit weg von seinem Ende sein, die EU kann den Schweizer Vorschlag akzeptieren oder nicht, RASA kann angenommen oder abgelehnt werden, das gleiche gilt für den Gegenvorschlag…
Die einzige Gewissheit: Die Debatte geht weiter. Es sei denn, die RASA-Initiative werde angenommen, womit das Resultat von drei Jahren Arbeit der Verwaltung, der Diplomatie und des Parlaments im Abfalleimer landen würde.
(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)
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