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Durchgreifen bei der Invalidenversicherung

Behinderte Angestellte der Firma Notz packen Besteck für Fluggesellschaften ein. Keystone

Die Sanierung der Invalidenversicherung (IV) stand im Zentrum der letzten Sessionswoche der eidgenössischen Räte, die am Freitag zu Ende ging.

Gemäss dem Prinzip «Eingliederung vor Rente» will die Volkskammer (Nationalrat) die Anzahl der IV-Bezüger um mindestens 20 Prozent senken.

Gegen den Widerstand der Linken hat der Nationalrat am Mittwoch nach fast 14-stündiger Debatte den materiellen Teil der Grossbaustelle 5. IV- Revision gutgeheissen. «Eingliederung vor Rente» lautete das unbestrittene Motto.

Die Sozialversicherung ist seit einigen Jahren in finanzieller Schieflage und strapaziert das Bundesbudget. Mit einem erneuten Fehlbetrag von 1,7 Milliarden Franken im letzten Jahr beläuft sich der Schuldenberg auf über 8 Milliarden.

Bevor die Abgeordneten beginnen, dieses Loch mit neuen Einnahmen zu stopfen, haben sie in den vergangenen Tagen eine Reihe von Vorkehrungen verabschiedet, um vorerst die Lücke zu schliessen.

Immer mehr Renten

Diese Massnahmen, die in die 5. Revision der IV fallen, zielen darauf hin, die Zahl der neuen Empfänger von Invalidenrenten gegenüber 2003 um 20% zu reduzieren.

Die Anzahl jener, die eine IV-Rente erhalten, hat im letzten Jahrzehnt einen Riesensprung nach vorn genommen: Waren es 1992 noch 3,2% der aktiven Bevölkerung, stieg dieser Anteil bis 2004 auf 5,2%.

Dieses Wachstum ist laut Experten auf das veränderte, härter gewordene soziale und berufliche Umfeld im Land zurückzuführen. Eine Folge der wirtschaftlichen Stagnation der 1990er-Jahre.

Zur Zeit sind gut 40% der an die IV gerichteten Unterstützungs-Anfragen psychisch bedingt.

«Scheininvalide»

Bevor sie bis ins Parlament drangen, haben die Probleme um die IV in den letzten Jahren innenpolitisch für einige Kontroversen gesorgt.

Laut der Schweizerischen Volkspartei (SVP) gibt es in der Schweiz zu viele Personen, welche die IV ausnützen, um eine nicht berechtigte Rente zu erhalten.

Christoph Blocher, Bundesrat aus den Reihen der SVP, hatte als Nationalrat wiederholt von «Scheininvaliden» gesprochen, bevor er in die Regierung gewählt wurde.

Kollektive Diffamierung

Während der Debatte im Nationalrat hat die Linke deutlich gegen «eine von der SVP lancierte unverantwortliche Hetzkampagne gegen Menschen mit Behinderungen» protestiert, welche diese als «Schmarotzer» diffamiere.

Die Vorlage bringe schmerzhafte und unzumutbare Rentenkürzungen, sagte die Sprecherin der Sozialdemokratischen Partei (SP), Christine Goll. Die Arbeitgeber würden damit aus der Verantwortung für die Integration Behinderter entlassen.

Trotz den Bedenken der Linken hat sich die Grosse Kammer für einen erschwerten Zugang zur IV-Rente ausgesprochen. Damit soll ein Paradigmenwechsel zur Sanierung der IV eingeleitet werden.

Das bedeutet, dass zukünftige Empfängerinnen und Empfänger von Geldern aktiv zur Mitarbeit bei Massnahmen verpflichtet werden, um ihre Arbeit weiterzuführen oder wieder in die Arbeitswelt eingegliedert zu werden.

Hauptaugenmerk soll dabei auf die Wiedereinstellung gelegt werden. Linke Anträge für Behindertenquoten in grösseren Betrieben im Nationalrat hatten keine Chance.

Auslandschweizer direkt betroffen

Die Mehrheit der grossen Kammer hat zudem entschieden, dass nur Personen ein Anrecht auf eine Invalidenrente geltend machen können, die mindestens drei Jahre Prämien einbezahlt haben (bisher 1 Jahr).

Diese Regelung bestraft laut Kritikern Ausländer und Junge, die eben erst in den Schweizer Arbeitsmarkt eingetreten sind.

Der Nationalrat hat auch Zusatzrenten und den so genannten Karrierezuschlag abgeschafft. Bisher wurde das Erwerbseinkommen eines Versicherten, der bei Eintritt der Invalidität noch nicht 45 Jahre alt war, um einen prozentualen Zuschlag erhöht.

Auslandschweizer und nicht in der Schweiz wohnhafte Ausländer sind von einem weiteren angenommenen Vorschlag direkt betroffen: Die Renten sollen in Zukunft der Kaufkraft im jeweiligen Land angepasst werden.

Diese Bestimmung, welche die EU-Länder nicht betrifft, ist von Bundesrat Pascal Couchepin kritisiert worden. Sie schadet seiner Meinung nach dem Bild der Schweiz in Ausland.

Referendum in Sicht

Das Massnahmenpaket der 5. IV-Revision – es muss noch die kleine Kammer, den Ständerat, passieren – würde pro Jahr Einsparungen von rund 300 Mio. Franken erlauben.

Kreise aus dem linken Parteienspektrum haben bereits das Referendum angedroht. In ihren Augen haben Regierung und Parlament während Jahren absichtlich untätig zugeschaut, um jetzt Leistungen abbauen zu können.

Die staatliche Versicherung soll nach dem Willen der Linken durch Einnahmen-Erhöhungen gesunden, zum Beispiel bei der Mehrwertsteuer. Ein Vorschlag, der in der 6. IV-Revision aufgenommen werden sollte.

swissinfo und Agenturen

Die 5. Revision der Invaliden-Versicherung (IV) zielt auf eine Verminderung der Neuaufnahmen um 20% gegenüber 2003.
Gegenwärtig erhalten 5,2% der aktiven Bevölkerung eine IV-Rente (gegenüber 3,2% im Jahr 1992).
Mit einem weiteren Verlust von 1,7 Mrd. Franken für 2005 hat die IV bisher einen Schuldenberg von über 8 Milliarden aufgehäuft.

Während der Frühjahrs-Session haben die Eidgenössischen Räte unter anderem die Revision des Radio- und TV-Gesetzes zu Ende gebracht. Sie dauerte 7 Jahre.

Demnach wird künftig die SRG SSR idée suisse den Privatsendern 4% der Gebühren-Einnahmen (45 Mio. Franken) abtreten. Und der Bund wird mindestens die Hälfte der Finanzierung von swissinfo übernehmen.

Die beiden Kammern haben sich auch in der Liberalisierung der «Letzten Meile» bei der Festnetz-Telefonie geeinigt. Die Swisscom wird der Konkurrenz ihr Monopol auf das Kupferkabel zwischen der Orts-Zentrale und der Steckdose öffnen müssen (Entbündelung).

Das Parlament hat im weiteren beschlossen, 1 Milliarde Franken an Kohäsions-Zahlungen an die EU zu leisten (Osthilfegesetz).

Schliesslich hat der Nationalrat die Einführung einer CO2-Abgabe auf Brennstoffen beschlossen, um den Ausstoss an Emissionen zu reduzieren.

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