Ein historischer Tag für Ägyptens Jugend
Die ersten Wahlen in der Nach-Mubarak-Zeit haben begonnen. Für Noura Abla, eine junge ägyptisch-schweizerische Doppelbürgerin, geht es um ihre Zukunft in Ägypten. Da heisst es: früh aufstehen.
Nach einem heftigen Regen in der Nacht, der die Kairoer Luft gereinigt und auf den unebenen Strassen riesige, braune Pfützen hinterlassen hat, beginnt der erste Wahltag freundlich.
Um acht Uhr morgens machen sich in der Innenstadt die 19-jährige Noura Abla und ihr Vater Mohammed, ein national bekannter Maler, zu Fuss auf den Weg zum Wahllokal im Wahlkreis Abdin, wo einst die Bediensteten des letzten Königs Faruk aus dem Abdin-Palast lebten.
Mutter Christine bleibt zuhause. Obwohl die Schweizerin seit Jahrzehnten in Ägypten lebt und als Lehrerin und Homöopathin arbeitet, hat sie sich nie um die ägyptische Staatsbürgerschaft bemüht. «Ich habe es nie für nötig gehalten, aber jetzt, wo sich Ägypten endlich bewegt, tut es mir schon etwas leid», sagt sie.
Unterwegs stösst Nouras Bruder Ibrahim dazu. Der Vater hat seine Kamera dabei, denn der historische Moment soll festgehalten werden.
«Wahlboykott wäre falsch»
Am Tag zuvor wollten noch viele Revolutionäre aus Protest gegen die herrschende Militärjunta die Wahlen boykottieren, nicht zuletzt, weil mit weiterer Gewalt gerechnet wurde und die Sicherheit der Wählenden nicht garantiert sei.
«Ein Boykott wäre falsch. Wenn wir nicht wählen gehen, überlassen wir das Feld kampflos den Muslimbrüdern, die auch so noch am meisten Stimmen holen werden», sagt Noura. Für die ägyptische Jugend, die in der Ära Mubarak geboren und aufgewachsen ist und nichts anderes kennt, sind diese Wahlen besonders wichtig.
Früh morgens seien die Warteschlangen vor den Wahllokalen wahrscheinlich noch nicht so lange, und zu Problemen und Aggressionen könnte es wohl eher später am Tag kommen, meint die junge Frau, die nächstes Jahr ihr Abitur an der Deutschen Schule in Kairo macht.
Vor dem Wahllokal in einem Schulhaus stehen Frauen und Männer in separaten Schlangen, die der Männer ist deutlich länger. Die Mauern sind mit Wahlplakaten voll geklebt. Zwei Frauen verteilen gelbe Propagandazettel der Muslimbrüder, die mit dem Slogan «Freiheit und Gleichheit» werben.
Auch die Wafd, die älteste Partei Ägyptens, wirbt noch in letzter Minute für ihre Kandidaten – was eigentlich nicht erlaubt ist, hier aber geduldet wird. Die Frauen – fast alle traditionell gekleidet und mit Kopftuch – kommen sofort miteinander ins Gespräch.
«Ungebildete lassen sich leicht überzeugen»
Eine alte Wählerin fragt die anderen, was sie ausfüllen solle, sie kenne sich überhaupt nicht aus. «Das ist ein grosses Problem in Ägypten», erklärt Noura. «Viele Leute sind ungebildet, haben nie gelernt, selbständig zu denken. Sie lassen sich dann leicht von den Muslimbrüdern überzeugen, für diese zu stimmen, mit dem Argument, dies sei gottgefällig.»
Sie selbst stimmt für eine liberale Partei. Von den beiden Personenstimmen gibt sie eine der Vertreterin der Al-Ghad-Partei (Der Morgen), Gamila Ismael, weil diese für ein modernes Ägypten einstehe. Sie ist auf zahlreichen Wahlplakaten in der Innenstadt und in Kairos Nobelviertel Zamalek präsent.
Beim Wahllokal in Abdin kontrollieren freiwillige Helfer und Wahlbeobachter den Eingang und lassen alte Menschen vorgehen. Polizisten und Soldaten stehen im Hintergrund bereit. Der Andrang ist mässig, die Stimmung entspannt.
Bereits nach einer halben Stunde Wartezeit kann Noura ihre Stimme abgeben. Stolz kommt sie aus dem Wahllokal, den mit blauer Tinte eingefärbten Finger in die Luft haltend. Die Tinte soll einige Tage haften und so garantieren, dass niemand zweimal seine Stimme abgibt. Ob dies allerdings eine Garantie für reguläre Wahlen sei, bezweifelt Noura.
In Zürich studieren
Später in einem Strassencafé erzählt sie, dass sie erst durch die Revolution so richtig politisiert worden sei. «Ich habe oft selbst auf dem Tahrirplatz demonstriert und auf Twitter und Facebook intensiv die Debatten verfolgt.»
Im März hat sie bei der Referendumsabstimmung über die Verfassungsänderungen Nein gestimmt: «Nur einzelne Artikel zu ändern genügt nicht. Wir müssen die Verfassung neu schreiben.»
Die Gymnasiastin arbeitet an einer Schülerzeitung mit und hat dort im Sommer einen Artikel über ihre Erfahrungen während der ersten Tage der Revolution geschrieben. Sie macht sich keine Illusionen darüber, dass sich in ihrem Land schnell etwas ändern werde, aber sie will sich engagieren, so gut sie kann.
«Ich liebe Ägypten, den Humor und die Warmherzigkeit der Menschen. Andrerseits nervt es mich, dass sich alle Leute in mein Privatleben einmischen wollen, mir vorschreiben, wie ich mich zu benehmen und wie ich mich zu kleiden habe. Das beengt mich.
Als ich diesen Sommer in Beirut war, hat mir dort das Nebeneinander von Tradition und modernem Lebensstil gut gefallen. Das fehlt hier bei uns», sagt die junge Frau mit dem kecken Piercing im Nasenflügel.
Obwohl die ägyptisch-schweizerische Doppelbürgerin nächstes Jahr ein Praktikum in einem anderen arabischen Land machen und anschliessend an der Hochschule der Künste in Zürich Visuelle Kommunikation studieren will, sieht sie ihre Zukunft in Ägypten: «In der Schweiz funktioniert zwar vieles besser als hier, aber wenn ich dort lebte, würde mir die Vitalität und Betriebsamkeit Kairos bald fehlen.»
Am Montag und Dienstag hat die erste Phase der ersten Parlamentswahlen nach der 30-jährigen Ära Mubarak stattgefunden.
In mehreren Wahlkreisen der Städte Kairo, Alexandria, Assiut, Port Said, Luxor, Kafr al-Sheikh, Fayoum und Damietta werden 168 von 498 Sitzen des Parlaments besetzt.
Die zweite Phase findet Mitte Dezember und die dritte Anfang Januar statt.
Im März 2012 soll ein neuer Präsident gewählt werden.
Von den 82 Millionen Ägypterinnen und Ägypter sind über 50 Millionen stimmberechtigt.
Nach einer Woche heftigen Protestes gegen die herrschende Militärjunta haben die Wahlen trotz Forderungen nach einer Verschiebung am Montag wie geplant begonnen.
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