Ein Leben unter Tag für Asylsuchende
Wegen dem grossen Zustrom Asylsuchender werden im Kanton Bern Zivilschutzanlagen in Notunterkünfte umfunktioniert. "Das ist ein Armutszeugnis für die Schweiz", sagt Jakob Amstutz, Geschäftsführer der Flüchtlingshilfe der Heilsarmee.
Auf einem beigen Sofa sitzen drei Afrikaner und verfolgen gebannt einen Bollywood-Film. Neben dem Fernseher liegen DVDs von «Pearl Harbor», «Cool Running» und «Dr. Dolittle». Aus einem Radio ertönt arabische Musik.
An den Tischen dahinter tunken Männer Brot ins Marmeladenglas oder essen gemeinsam aus einer Pfanne Reis. Einige sitzen apathisch da.
Ein junger Mann in T-Shirt und Trainingshose will ein Brot aufwärmen. Unbeholfen schaut er in den Backofen und dann wieder auf die Schalter. Im Waschraum daneben bügelt ein Mann seine Jeans.
Im Schein von Neonlicht
Alltag in der Notunterkunft für Asylsuchende an der Effingerstrasse in Bern. Das Leben spielt sich im grellen Schein von Neonlicht ab. Die Asylbewerber sind in der Zivilschutzanlage eines Schulhauses untergebracht. Sie leben unter dem Boden.
Lange Lüftungsrohre, Betondecken und Neon – statt Tageslicht: Je 16 Menschen teilen sich einen Schlafraum mit dreistöckigen Kajütenbetten, grauen Metallschränken und fensterlosen Mauern.
Im Moment leben hier auf engstem Raum rund 40 Asylbewerber aus Eritrea, Somalia, Irak, Georgien und der Türkei. Es werden jedoch fast täglich mehr. Bis zu 100 Personen sollen hier untergebracht werden, wegen des fehlenden Tageslichts keine Familien, sondern nur Männer.
«Ruhe bewahren»
Die Flüchtlingshilfe der Heilsarmee, welche im Kanton Bern rund 10 Durchgangszentren betreut, hat die Notunterkunft vor einer Woche eröffnet. Es blieb ihr nur ein paar Tage Zeit, um die Zivilschutzanlage in eine Unterkunft für Asylbewerber umzufunktionieren, das heisst Türen, Trennwände, Schränke einzubauen und Kochherde anzuschliessen.
In der Küche wurde eine ganze Serie von Kühlschränken installiert, auf jedem klebt ein Blatt mit einer Liste von Namen – sie sind nach Ethnien und Religionen aufgeteilt.
«Es geht im Moment darum, die Ruhe und den Überblick nicht zu verlieren», sagt Andreas, einer der fünf Betreuer. Die Vorstellung, dass schon bald mehr als doppelt so viele Menschen hier unten sein werden, mache ihm jedoch schon ein bisschen Sorgen.
«Wir haben hier ein Notfallszenario, das sich niemand wünscht», sagt Jakob Amstutz, Geschäftsführer der Flüchtlingshilfe der Heilsarmee. «Wir waren nicht vorbereitet auf diese Situation. Das darf nicht wieder vorkommen», so Amstutz. «Diese Anlagen sind ein Armutszeugnis für die Schweiz mit ihrer humanitären Tradition.»
Eine Frage des Geldes
Die steigende Zahl der Asylbewerber setzt Kantone und Gemeinden immer mehr unter Druck. Der Kanton Bern hat im Oktober die Überlastung bei den Durchgangszentren zur Notlage erklärt.
Alt Bundesrat Blocher hatte den Kantonen die Bundesbeiträge für Reserveplätze gestrichen, mit denen auf stark steigende Asylbewerberzahlen reagiert werden konnte. Dafür wollte der Bund bei Bedarf Armeeunterkünfte bereitstellen – dieses Notfallkonzept konnte jedoch nicht umgesetzt werden.
Ist die momentane Lage also Christoph Blocher zu verdanken? «Angesichts der grossen Zunahme der Anzahl Asylsuchender hätten die Reserveplätze auch nicht lange ausgereicht», sagt Roman Cantieni, Pressesprecher des Bundesamtes für Migration, gegenüber swissinfo. Bund und Kantone seien nun gemeinsam auf der Suche nach einer Lösung.
Es sei immer die Frage, wie viel Geld man in die Hand nehmen will, für etwas, wo man nicht weiss, ob es eintrifft. In den Gemeinden neue Gebäude zu erstellen sei nicht so einfach und dauere mit den Einsprachen oft mehrere Monate.
«Froh um ein Bett»
Wie gehen die Asylbewerber mit dem Alltag unter dem Boden um? «Die meisten Asylsuchenden sind einfach froh, ein Bett zu bekommen», sagt Andreas. Sie würden sich über das Bettzeug und die neuen, glänzenden Pfannen freuen, die sei beim Eintritt erhielten.
Wie es sei, unter dem Tag zu leben, sei jedoch nicht zu unterschätzen, vor allem wenn man verurteilt sei, zu warten, sagt Amstutz. Es gebe Leute, die im Gefängnis waren, die nicht in die Anlage reinkönnten. Auch der Zustand bei Asylbewerbern mit psychischen Problemen könne sich hier unten verschlechtern.
Ein Problem sei auch, dass durch die Belüftung Krankheiten verbreitet würden. Es komme auch immer wieder vor, dass Asylbewerber den Tag zur Nacht machten oder umgekehrt – hier unten mache das ja keinen Unterschied.
Da die Heilsarmee zur Zeit nicht die Kapazitäten hat, die Notunterkunft 24 Stunden lang zu betreuen, ist die Securitas nachts vor Ort. Private Sicherheitsfirmen und Flüchtlingshilfe, wie passt das zusammen? Es sei nicht anders möglich, sagt Amstutz. «Die Zusammenarbeit funktioniert jedenfalls gut.»
swissinfo, Corinne Buchser
In den ersten neun Monaten 2008 wurden gemäss Bundesamt für Migration 30% mehr neue Asylgesuche gezählt als in der Vorjahresperiode 2007.
Ursache für den Anstieg ist für allem die Zunahme der Gesuche von Personen aus Eritrea, Somalia, Serbien und Kosovo, Irak, Nigeria, Sri Lanka, Nigeria, Georgien und Afghanistan.
Der Kanton Bern hatte im Oktober den Engpass bei der Unterbringung von Asylsuchenden zur Notlage erklärt. Dadurch konnte er Gemeinden verpflichten, Zivilschutzanlagen zur Verfügung zu stellen.
In der Stadt Bern, wo schon in früheren Jahren Asylsuchende unterirdisch untergebracht waren, wurden im November bereits zwei Anlagen eröffnet. Nächstens wird eine dritte in Betrieb genommen.
Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf einigte sich letzten Donnerstag mit den Kantonen darauf, dass der Bund den Kantonen 25 Mio. Franken für die Mehrkosten im Asylwesen bezahlt.
Ihr Vorgänger Christoph Blocher war davon ausgegangen, dass der Bund im Notfall die Asylsuchenden während mindestens sechs Monaten in zusätzlichen Unterkünften selbst betreuen könnte.
Um Kosten zu sparen, hatte der Bund die Abgeltungen an die Kantone gekürzt und die Aufnahmekapazität heruntergefahren.
Zurzeit stehen in den Kantonen 10’000 Plätze zur Verfügung. 12’000 bis 13’000 wären nötig, um den Zustrom der Asylsuchenden zu bewältigen.
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