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«Eine Initiative für die Mittelschicht»

Latsis-Preisträger Bonoli steht der AHV-Initiative skeptisch gegenüber. Keystone

Der Sozialwissenschafter und Latsis-Preisträger Giuliano Bonoli beurteilt die AHV-Initiative des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes skeptisch. Positiv findet er, dass die Frage der Demokratisierung von Frühpensionierungen diskutiert wird.

swissinfo: Wie beurteilen Sie die Forderung der AHV-Initiative nach einem flexiblen Rentenalter 62 im europäischen Kontext?

Giuliano Bonoli: Diese Forderung steht äusserst quer. Denn in ganz Europa haben wir momentan einen gegenläufigen Trend. Man versucht überall, die Arbeitnehmer dazu zu ermuntern, länger im Arbeitsprozess zu bleiben.

swissinfo: Es gibt aber auch Länder wie Deutschland und Frankreich, in denen viele Frühpensionierungen erfolgten.

G.B.: Das stimmt, aber man hat diese Politik von Frühpensionierungen im Alter von 57/58 Jahren wieder aufgegeben. Der Zug geht nun in die andere Richtung. Die Schweiz war in Sachen Frühpensionierung dagegen stets zurückhaltend.

swissinfo: Die Statistiken zeigen, dass auch in der Schweiz in bestimmten Berufen – beispielsweise in der Bankenbranche – die Angestellten wesentlich früher in Rente gehen als etwa in der Verkaufsbranche oder in der Landwirtschaft. Ist das nicht eine Ungerechtigkeit, die der Staat ausgleichen sollte?

G.B.: Da bin ich generell einverstanden. Man muss aber den Hintergrund sehen. Wann eine Person in Pension geht, hängt entscheidend von der Pensionskasse – der zweiten Säule – und nicht von der ersten Säule (AHV) ab. Das zeigen alle sozialwissenschaftlichen Studien zu diesem Thema.

In diesem Sinne kommt der SGB-Initiative der Verdienst zu, die Frage der Demokratisierung der Frühpensionierung aufzuwerfen.

swissinfo: Der Bundesrat hat Angst, dass künftig praktisch alle Arbeitnehmer mit 62 Jahren in Rente gehen, weil sie im Falle einer Annahme der Initiative diese Möglichkeit hätten. Ist diese Annahme nicht übertrieben angesichts des Unterschieds zwischen Lohn und AHV-Rente?

G.B.: Die grosse Frage ist in der Tat: Wer und wie viele Personen werden von dieser neuen Möglichkeit, mit 62 Jahren die volle AHV-Rente zu beziehen, Gebrauch machen. Die AHV-Rente allein reicht ja kaum aus, um zu überleben. Also muss eine weitere Einkunftsquelle wie die zweite Säule bereit stehen.

Daher habe ich den Eindruck, dass vor allem die Mittelschicht davon profitieren würde und nicht Personen mit sehr geringen Löhnen und anstrengenden Jobs, die die Frühpensionierung vielleicht wirklich nötig hätten.

swissinfo: Der Ansatz von einem maximalen Jahreslohn gemäss Initiative von 119’340 Franken, um von einer Frühpensionierung bei ungekürzter AHV zu profitieren, scheint recht hoch.

G.B.: Das nährt in mir eben die Zweifel, ob es hier um eine echt soziale Vorlage geht. Im Auftrag des Bundesamtes für Sozialversicherungen haben wir Modelle entwickelt, welche die Frage der Frühpensionierung viel gezielter angehen.

swissinfo: Zum Beispiel?

Indem etwa Arbeitnehmenden die Frühpensionierung erleichtert wird, die früh ihre Berufstätigkeit aufnahmen und besonders lang AHV-Beiträge gezahlt haben. Diese Personen könnten entweder früher in Pension gehen oder höhere Renten erhalten. Dieser Weg erscheint mir besser als eine fast allgemeine Senkung des AHV-Alters.

swissinfo: Der Bundesrat und die bürgerlichen Parteien bekämpfen die Initiative vor allem aus Kostengründen. Der Gewerkschaftsbund SGB spricht dagegen von einer minimalen Erhöhung der Beiträge mit hohem Nutzen.

G.B.: Ich verstehe die Position des Bundesrats. Denn wir befinden uns in einer Phase, in der es darum geht, die Finanzierung der AHV langfristig zu sichern. Eine Ausweitung der Bezüger liegt finanziell quer.

Aber wie gesagt, alles hängt davon ab, wie viele Leute von der Regelung Gebrauch machen würden. Die Schätzungen zwischen SGB und Bundesrat sind äusserst unterschiedlich. Dabei spielt auch die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt eine wichtige Rolle.

Sollte sich wirklich eine starke Wirtschaftskrise einstellen, würden wohl mehr Leute von der Frühpensionierung Gebrauch machen und gleichzeitig weniger Personen AHV-Beiträge bezahlen.

swissinfo: In der Baubranche hat man das Bedürfnis nach Frührente branchenspezifisch im Gesamtarbeitsvertrag und einem eigenen Fonds gelöst. Könnte dies eine Möglichkeit auch für andere Branchen sein?

G.B.: Das ist für die Baubranche eine gute Lösung. Aber es lässt sich schwer auf andere Branchen übertragen. Für die ganze Industrie wäre es kaum machbar.

swissinfo: In Broschüren der Befürworter zur AHV-Initiative liest man immer wieder «Demographie: Kein Problem für die AHV». Wird zuviel Angstmacherei mit der Überalterung der Gesellschaft betrieben?

G.B.: Die Wahrheit ist, dass es äusserst schwierig ist, Vorhersagen zu machen. Wir wissen nur genau, was auf uns an Kosten zukommt. Denn die Ausgaben entsprechen genau der Anzahl der AHV-Empfänger.

Die Einnahmen hingegen hängen vom Wirtschaftsverlauf und der Anzahl der Beitragszahler ab. Die Wirtschaft müsste prozentual stärker wachsen, als die Zunahme der Bezüger, um die Finanzierung zu garantieren. Und dieses Szenario scheint wenig wahrscheinlich.

swissinfo: In Umfragen scheint die AHV-Initiative gute Chancen zu haben, angenommen zu werden?

G.B.: Das wird sich weisen. Sicher ist, dass die heutigen Rentner mehrheitlich dagegen stimmen werden. Dies haben wir bei Auswertungen von ähnlichen Vorlagen sehen können. Die Rentner fürchten um ihre eigenen Bezüge, wenn der Kreis der Berechtigten zunimmt.

swissinfo, Gerhard Lob

Giuliano Bonoli (40) ist Professor für Sozialpolitik am «Institut de hautes études en administration publique» (IDHEAP) in Lausanne.

Er studierte Politikwissenschaften an der Universität Genf und promovierte an den Universitäten Leeds und Kent (England).
2007 erhielt er den Nationalen Latsis-Preis für seine vergleichenden Untersuchungen zur Rolle des Sozialstaates in Europa.

Die Volksinitiative des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) fordert, dass Personen mit einem Erwerbseinkommen von bis zu 119’340 Franken im Jahr ab dem 62. Altersjahr eine ungekürzte AHV-Rente erhalten sollen, wenn sie ihre Erwerbsarbeit aufgeben.


In der Schweiz beträgt das Rentenalter momentan 64 (Frauen) und 65 Jahre (Männer). Es existiert die Möglichkeit von Frühpensionierungen, doch wird dann ein Teil der AHV-Rente gekürzt.

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