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Eine Wahlkampagne, der die Themen fehlen

Die Wahlkampagne greift noch nicht: Lediglich 46% der Befragten beabsichtigen derzeit, an den Wahlen vom 23. Oktober teilzunehmen. Ex-press

Die Energiepolitik bleibt trotz abnehmendem Fukushima-Effekt im Zentrum der politischen Debatte. Vom Fehlen anderer grosser Themen profitieren besonders Kleinparteien, grosse verlieren Stimmen. Das zeigt das vierte Wahlbarometer der SRG SSR.

«Die Wahlkampagne hat praktisch am 11. März angefangen», sagt Claude Longchamp, Leiter des Forschungsinstituts gfs.bern, welches das Wahlbarometer in Auftrag der SRG SSR durchgeführt hat.

«Der Nuklearunfall nach dem Tsunami in Japan war das wichtigste Ereignis der letzten Monate und hat eine grosse Debatte um die Energiepolitik losgetreten.»

Die Zukunft der Energiepolitik stand denn auch im Zentrum der Schweizer Politik der letzten Wochen. Am 25. Mai teilte die Schweizer Regierung mit, bis 2034 alle Atomkraftwerke abzuschalten.

Die neue Haltung des Bundesrats, bis vor kurzem noch undenkbar, wurde am 8. Juni vom Nationalrat bestätigt, der sich ebenfalls für einen Ausstieg aus der Atomenergie ausgesprochen hat.

Vier Monate nach der Atom-Katastrophe von Fukushima bleibt dieses Thema die grösste Sorge der Bevölkerung. Laut dem vierten Wahlbarometer, das zwischen dem 13. und 26. Juni realisiert wurde, stehen Klimaveränderung und Umweltkatastrophen für 43% der Befragten an erster oder zweiter Stelle jener Probleme, die sie möglichst bald gelöst haben möchten.

Mit 34% folgen die Einwanderungs-und Asylpolitik, Sozialversicherungen und Armut mit 15%, die Kosten für die Krankenversicherung erachten 14% als sehr wichtig und die Arbeitslosigkeit 13%.

Kleine profitieren

«Wenn wir die Stimmabsichten der befragten Personen anschauen, können wir aber feststellen, dass der Fukushima-Effekt eher bescheiden geblieben ist und politisch keine grossen Auswirkungen auf nationaler Ebene hat», sagt Longchamp.

Der aktuelle Wahlkampf scheine sich vielmehr dadurch zu charakterisieren, dass andere heisse Themen fehlten – dagegen halte einzig zu einem gewissen Grad die Ausländer-Thematik, die regelmässig von der Schweizerischen Volkspartei (SVP) aufgeheizt werde.

Daher seien auch eher wenige bereit, an den Wahlen teilzunehmen: Knapp drei Monate vor den Wahlen vom 23. Oktober sprachen sich lediglich 46% der Befragten für eine Beteiligung an den Wahlen aus – der tiefste Prozentsatz seit einem Jahr.

Von der Unfähigkeit der grossen Parteien zur Mobilisierung der Wählerschaft profitieren laut dem Wahlbarometer einige kleinere Parteien, namentlich die Grünliberale Partei (GLP), die laut der neusten Umfrage auf 5,2% Stimmenanteil kommt, während sie bei den letzten Parlamentswahlen 2007 erst 1,4% erreicht hatte.

Unter den Gewinnern findet sich auch die Bürgerlich-Demokratische Partei (BDP), die auf 3% der Wählerstimmen kommen würde. Diese 2008 aus einer Abspaltung von der SVP entstandene Bewegung bleibe aber immer noch eine «Nischenpartei», die auf wenige Kantone beschränkt sei, so Longchamp. Nur leicht zulegen kann die Grüne Partei, die von 9,6% im Jahr 2007 auf 10% kommt.

Grosse verlieren

Federn lassen müssen die vier grossen Parteien. Die rechtskonservative SVP sinkt im vierten Wahlbarometer von 28,9% auf 27,5%. Die Umweltthemen haben in letzter Zeit Fragen um Ausländerpolitik, Europäische Union und Bildung in den Hintergrund gedrängt. Longchamp will aber nicht ausschliessen, dass es der SVP nicht auch dieses Mal wieder gelingt, in den verbleibenden Monaten die Wahlkampagne zu prägen.

Auf linker Seite kommt die Sozialdemokratische Partei (SP) noch auf 18,9%. 2007 wies sie einen Wähleranteil von 19,5% auf. Die Sozialdemokraten können so zwar die Verluste in Grenzen halten, sie entfernen sich aber weiter von ihrem erklärten Ziel von 20% Wähleranteil. Die positive wirtschaftliche Situation scheint der SP nicht zu helfen, wird sie doch von den meisten Wählenden immer noch als die Partei für soziale Fragen angesehen.

Auch die beiden historischen Parteien im politischen Zentrum verlieren im Wahlbarometer Stimmenanteile. Während die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) bei den letzten Wahlen 2007 noch auf 14,5% gekommen war, erreicht sie nun 13,4%. «Die CVP versucht derzeit, sich ein Umweltschützer-Image zu verleihen, doch das Stimmvolk hat vermutlich nicht vergessen, wie sie vorher zur Atomenergie stand», gibt Longchamp zu bedenken.

Die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP.Die Liberalen) ist laut der Umfrage die grösste Verliererin: Sie kommt noch auf 15%, 2,7% weniger als 2007 (dazu gehören auch die Stimmenanteile der Liberalen Partei, mit der die FDP in der Zwischenzeit fusioniert hat).

Wenig Schwankungen

Diese Veränderungen sind jedoch mit Vorsicht zu geniessen: Das Wahlbarometer weist einen Stichprobenfehler von 2,2% aus. Trotzdem sagt Longchamp, dass die Umfragen und die tatsächlichen Resultate in der Vergangenheit gezeigt hätten, dass Abweichungen von über 1% fast immer eine Tendenz aufzeigten: «In 30 Jahren habe ich nur einmal erlebt, dass eine Partei von einer Umfrage auf die nächste über 3% zugelegt hat.»

Auf der anderen Seite verändern sich die Wähleranteile von Parteien zwischen zwei Wahlen in der Regel nicht gross – mit Ausnahme der SVP, die über einen Zeitraum von zwei Jahrzehnten stark gewachsen ist. Die Schweiz ist ein besonderer Fall im Vergleich mit vielen anderen europäischen Ländern, wo regelmässig grosse Verschiebungen der Wählerstärke der Parteien stattfinden.

Dasselbe Phänomen ist auch bei den Themen der Wahlkampagne zu beobachten: Während Schulden und Sparprogramme in anderen Ländern zu heftigen Kämpfen führen, ist die Schweiz wirtschaftlich in einer derart guten Lage, dass die Wirtschaft den Parteien keine Möglichkeiten bietet, um sich beim Stimmvolk zu profilieren und die Wählerschaft anzulocken.

Die vierte Umfrage der SRG SSR wurde vom 13. bis 26. Juni vom Institut gfs.bern durchgeführt. 2006 Personen in allen Sprachregionen des Landes wurden telefonisch befragt.

Nicht befragt wurden hingegen die Auslandschweizer, von denen 135’000 Personen in Wahlregistern eingetragen sind.

Seit letztem Jahr stellt das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) die Adressen von Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern den Forschungsinstituten aus Gründen des Datenschutzes nicht mehr zur Verfügung.

Laut Claude Longchamp handelt es sich dabei um eine gewichtige Beeinträchtigung des Wahlbarometers, da die Auslandgemeinde nicht gleich wählt wie die Inlandschweizer.

Zweitwichtigstes Thema nach der Umwelt war in der Umfrage die Einwanderung.

Eine Mehrheit der befragten Personen ist der Meinung, die Einwanderung sollte aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen moderat eingeschränkt werden (Übervölkerung, Konkurrenz im Arbeitsmarkt, höhere Mieten).

Andererseits sind 70% der Befragten überzeugt, dass eine beschränkte Einwanderung eine Lücke beim qualifizierten Personal hervorrufen würde.

(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

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