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Erklärt: Was bringt das Freihandelsabkommen zwischen Indien und den EFTA-Staaten?

Menschen auf einer dicht bevölkerten Strasse.
Im vergangenen Jahr wurde Indien mit 1,4 Milliarden Menschen zum bevölkerungsreichsten Land der Welt. Das Land hat eine wachsende Mittelschicht und ist derzeit die am schnellsten wachsende grosse Volkswirtschaft. Keystone

Wendepunkt, Game-Changer, Win-Win-Lösung: Offizielle aus der Schweiz und Indien beschreiben das nach jahrelangen Verhandlungen unterzeichnete Freihandelsabkommen zwischen Indien und der EFTA mit Superlativen. Aber ist es wirklich so rosig? Ein Blick auf das Kleingedruckte.

Am 10. März hat Indien ein weitreichendes FreihandelsabkommenExterner Link (FTA) mit den vier Mitgliedern der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) unterzeichnet: der Schweiz, Norwegen, Island und Liechtenstein. Vorausgegangen waren 21 Gesprächsrunden in insgesamt 16 Jahren.

Die vier kleinen europäischen Staaten haben sich verpflichtet, 100 Milliarden Dollar (87,6 Milliarden Franken) in das südasiatische Land zu investieren und innerhalb von 15 Jahren eine Million Arbeitsplätze zu schaffen.

Das Potenzial ist enorm. Im vergangenen Jahr wurde Indien mit 1,4 Milliarden Menschen zum bevölkerungsreichsten Land der Welt. Das Land hat eine wachsende Mittelschicht und ist derzeit die am schnellsten wachsende grosse Volkswirtschaft der Welt – mit einem Wirtschaftswachstum von 8,4 % im Jahr 2023.

Im Gegenzug hat Indien zugesichert, dass es die sehr hohen Zölle auf 95,3 % der gewerblichen Einfuhren, mit Ausnahme von Gold, entweder sofort oder im Laufe der Zeit aufheben wird.

Indien und die vier EFTA-Staaten müssen das Abkommen nun ratifizieren, bevor es in Kraft treten kann. Die Schweiz plant, dies bis nächstes Jahr zu erledigen.

Wie könnte die Schweiz vom Indien-EFTA-Abkommen profitieren?

Global gesehen sind die Schweiz und Indien keine wichtigen Handelspartner. Der bilaterale Handel belief sich im Jahr 2023 auf rund 17,7 Milliarden Franken, wobei es sich noch um eine provisorische Zahl handelt.

Derzeit exportiert die Schweiz nach Indien vor allem Edelmetalle, Maschinen, Pharmazeutika und Chemikalien; importiert werden hauptsächlich Chemikalien, Textilien, Edelmetalle und landwirtschaftliche Erzeugnisse.

Beobachterinnen erwarten jedoch, dass das Abkommen den Unternehmen den Zugang zu Indiens riesigem Markt erleichtern wird. Derzeit sind mehr als 300 Schweizer Firmen wie Nestle, Holcim, Sulzer und Novartis dort tätig.

LautExterner Link dem Schweizer Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) bieten sich für Schweizer Unternehmen künftig Chancen in den Bereichen Infrastruktur, Bauwesen, Luxusgüter, Digitalisierung, saubere Technologien und Elektromobilität.

Schweizer Hersteller:innen und Exporteur:innen von Werkzeugmaschinen und anderen Maschinenbauprodukten, hochwertigen Uhren, Schokolade, verarbeiteten Lebensmitteln und Getränken könnten ebenso profitieren wie die Pharma- und Medizinprodukteindustrie.

Sektoren wie Molkereiprodukte, Soja, Kohle und «empfindliche landwirtschaftliche Produkte» sind jedoch vom Abkommen ausgeschlossen.

Der bei weitem grösste Export der EFTA nach Indien ist Gold, hauptsächlich aus der Schweiz. Neu-Delhi erklärte, dass die Zölle darauf unangetastet blieben.

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Wie wurde das Abkommen in der Schweiz aufgenommen?

Bei seiner Rückkehr in die Schweiz konnte Wirtschaftsminister Guy Parmelin seine Freude nicht verbergen. Er erklärte, das Abkommen werde den Schweizer Unternehmen für viele Jahre einen «Wettbewerbsvorteil» verschaffen.

«Es ist historisch. Indien war vielleicht das fehlende Element in unserem Netz von Freihandelsabkommen. Es ermöglicht uns eine Diversifizierung», sagte er dem Westschweizer Fernsehen RTS.

Die Abschaffung der Zölle werde zu zusätzlichen Exporten in Höhe von rund 170 Millionen Franken pro Jahr führen, fügte er hinzu.

Martin Hirzel, Präsident von Swissmem, dem Dachverband der Maschinen- und Elektroindustrie, bezeichnete das Abkommen als «Game-Changer». Seiner Meinung nach kommt es zum richtigen Zeitpunkt. Er meint dies auch in Bezug auf ein mögliches Handelsabkommen zwischen Indien und der Europäischen Union.

«Wir haben jetzt einen überteuerten Schweizer Franken, der eine grosse Herausforderung für die Unternehmen darstellt. Wir erleben eine industrielle Rezession und die Zahl der neuen Aufträge geht zurück. Jetzt haben wir in Indien einen Zollerlass von 20%. Wir sind über Nacht wieder wettbewerbsfähig geworden», sagte er gegenüber dem Schweizer Fernsehen, SRF.

Thomas Cottier, pensionierter Wirtschaftsrechtsprofessor an der Universität Bern, ist vorsichtiger. «Ich glaube nicht, dass es ein Umbruch sein wird», sagte er gegenüber SRF. «Das Abkommen wird sicherlich zu einem Wachstum des Handels mit Indien führen. Aber wir kommen von einem bescheidenen Niveau von 3,7% im Jahr 2022 aus; das wird möglicherweise auf 4 bis 5% steigen.»

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Wie könnte Indien vom Indien-EFTA-Abkommen profitieren?

Auf indischer Seite bezeichnete Premierminister Narendra Modi die Unterzeichnung als «Wendepunkt».

«Dieses wegweisende Abkommen unterstreicht unser Engagement für die Förderung des wirtschaftlichen Fortschritts und die Schaffung von Chancen für unsere Jugend. Die kommenden Zeiten werden mehr Wohlstand und gegenseitiges Wachstum bringen, da wir unsere Beziehungen zu den EFTA-Staaten stärken», schrieb Modi auf X.

Indien erklärte, dass der Pakt die Exporte in Bereichen wie IT, Unternehmensdienstleistungen, Bildung, Pharmazeutika, Bekleidung, Chemikalien und Maschinen ankurbeln werde.

Das Hauptaugenmerk liegt jedoch auf den Investitionen. Regierungsbeamte hoffen, dass das Freihandelsabkommen Modis «Make in IndiaExterner Link«-Initiative zur Förderung von Investitionen und Arbeitsplätzen Auftrieb geben wird. Insbesondere in den Bereichen Automobil, Lebensmittelverarbeitung, Eisenbahn und Finanzwesen.

Beobachter:innen erwarten, dass die Regierung Modi die wachsende Attraktivität Indiens als schnell wachsende Wirtschaft und als Alternative zu China für globale Lieferketten nutzt, um eine Reihe von Freihandelsabkommen abzuschliessen.

Seit 2021 hat Indien nun vier Abkommen in kurzer Folge unterzeichnet. Die Schweiz und die EFTA sind die ersten europäischen Partner. Indien verhandelt auch mit dem Vereinigten Königreich, der Europäischen Union und Australien über Freihandelspakte.

Das EFTA-Abkommen kommt wenige Tage bevor Modi die Termine für die nationalen Wahlen bekannt geben will.

Analyst:innen zufolge wird der EFTA-Pakt Indien zwar nicht unmittelbar helfen, sein grosses Handelsdefizit mit der EFTA zu verringern. Aber er werde dazu beitragen, Investitionen in Schlüsselindustrien anzuziehen.

«Das Handelsabkommen wird dazu beitragen, Investitionen in wichtige Sektoren wie medizinische Geräte und saubere Energie zu fördern und die Exporte in andere Länder durch den Zugang zu schweizerischen und norwegischen Technologien zu steigern», sagte Ram Singh gegenüber Reuters. Der Handelsökonom leitet das Indische Institut für Aussenhandel, einen Thinktank in Neu Delhi.

Gibt es in der Schweiz politischen Widerstand gegen das Abkommen?

Das Schweizer Parlament muss dem Abkommen noch grünes Licht geben. Das entsprechende Verfahren wird bald eingeleitet, damit das Abkommen spätestens 2025 ratifiziert werden kann.

Während es von Schweizer Wirtschaftsführer:innen und Mitte-Rechts begrüsst wurde, hat die politische Linken noch Fragen.

«Investitionen können ein Motor für nachhaltige Entwicklung und gute Arbeitsplätze sein. Sie können aber auch von Nachteil sein, wenn das Geld in den Kohleabbau oder die Abholzung von Tropenwäldern investiert wird. Wir brauchen also Bedingungen [in dem Abkommen], um solche Dinge zu verhindern», sagte der sozialdemokratische Nationalrat Fabian Molina gegenüber SRF.

Sollten die politischen Differenzen weiter bestehen, könnte das Abkommen in der Schweiz in einem nationalen Referendum angefochten werden, ähnlich wie das Freihandelsabkommen mit Indonesien, das im März 2021 eine Abstimmung knapp überstand.

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Was hält die Schweizer Pharmaindustrie von dem Deal?

Als Zeichen des Entgegenkommens gegenüber der Schweizer Pharmaindustrie erklärte die Regierung, das Abkommen enthalte «Verbesserungen» bei den Rechten am geistigen Eigentum, den Patentverfahren und dem Schutz der «Swissness».

Die Schweizer Pharmaindustrie begrüsst das Abkommen jedoch nur zurückhaltend.

«Grundsätzlich unterstützen wir den Abschluss neuer Freihandelsabkommen», sagte Stephan Mumenthaler, Leiter von Scienceindustries, dem Dachverband der Chemie-, Pharma- und Biowissenschaftsbranche.

Für eine endgültige Beurteilung des Textes sei es aber noch zu früh, so die Gruppe.

«Es ist wichtig, dass der Schutz des geistigen Eigentums gebührend gewährleistet ist und dass sich die Parteien verpflichten, die auf internationaler Ebene festgelegten Standards einzuhalten», fügte er hinzu.

Public Eye, eine Schweizer Nichtregierungsorganisation, welche die Verhandlungen, insbesondere zu Gesundheitsfragen, aufmerksam verfolgt hat, äusserte sich ebenfalls zurückhaltend.

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«Einerseits wurde mit dem Verzicht auf eine automatische Verlängerung von Monopolen im Zusammenhang mit dem geistigen Eigentum, wie die Verlängerung der Dauer von Patenten oder die Exklusivität von Zulassungsdaten, die die Schweiz seit langem gefordert hatte, das Schlimmste verhindert», sagte Patrick Durisch, Gesundheitsexperte der NGO, gegenüber der Zeitung Le Temps.

«Dies hätte den Markteintritt von billigeren Generika in Indien, aber auch in vielen anderen armen Ländern, die darauf angewiesen sind, verzögert.»

Andererseits enthalte der Text problematische Aspekte, die über die Standards der Welthandelsorganisation (WTO) hinaus gingen und darauf abzielten, den Schutz vor missbräuchlichen Patenten zu schwächen. Damit werde das Recht auf Gesundheit gefährdet, fügte er hinzu.

Edited by Reto Gysi von Wartburg/ts

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