«Erwirtschaften vor Verteilen» – Karin Keller-Sutters Aufstieg zur Bundespräsidentin
Karin Keller-Sutter kämpft gegen den Ruf, sie sei eine Hardlinerin, eine Machtfrau. Ihre emotionale Kompetenz spürte bisher vor allem, wer mit ihr arbeitete. Dabei verdankt sie dieser den Aufstieg. Die Schweizer Bundespräsidentin im Portrait.
Karin Keller-Sutter ist 38 Jahre alt und Polizeidirektorin im Kanton St. Gallen, ein erster Eindruck vor 23 Jahren.
Die Reportage, an der wir arbeiten, handelt von einem damals neuen Phänomen. Es geht um Dealer afrikanischer Herkunft, die Kokain in Kügelchen verpackt unter die Leute bringen. Das ist im Juli 2002 ein politisches Minenfeld.
Flüchtlingsheime werden zu Drogen-Vertriebszentren. Die Polizei wirkt überfordert. Rassismusvorwürfe werden laut.
Karin Keller-Sutter hat in ihrem Kanton die Polizei an den Brennpunkten verstärkt. Das bringt ihr Aufmerksamkeit – und den Ruf einer Hardlinerin. Was sagt sie zum Thema? Wir fragen per Mail.
Ein Telefon spät am Abend
Sie antwortet umgehend und bittet um einen Anruf am Abend. «Sie können mich bis 22 Uhr noch erreichen»: Privatnummer. Das ist ungewöhnlich, Schweizer Kantonsregierungen haben Sekretariate, Pressestellen und Bürozeiten.
Im Gespräch spät am Abend folgt dann die eigentliche Überraschung: Mehr als über ihre Politik redet Karin Keller-Sutter über Menschen, über Polizist:innen, Migrant:innen und Süchtige. Sie erzählt, was die Leute ihr erzählen. Sie redet von Opfern und Unrecht, von Not und Überforderung. Redet so eine Hardlinerin?
Zitieren lässt sie sich mit dem Satz: «Sie missbrauchen unser Asylrecht gezielt. Das strapaziert unsere humanitäre Tradition.» Ja, so spricht eine Hardlinerin.
Viele, die sie kennen, beschreiben eine Politikerin, die Fragen stellt und auch Ratlosigkeit nicht versteckt. «Hardlinerin» ist eine Zuschreibung. Sie hat sich stets daran gestört.
Karin Keller-Sutters emotionale Intelligenz
In den folgenden Jahren wird sie erzählen, dass sie nicht freiwillig kinderlos geblieben sei, sondern zwei Fehlgeburten erlitten habe. Sie wird sich mit ihrem alten, taub gewordenen Jack Russell Terrier «Picasso» zeigen, den sie verniedlichend «Picceli» nennt.
Und sie wird auch sagen: «Ich hoffe, ich sterbe vor meinem Mann. Ich glaube, er käme besser zurecht ohne mich, als ich ohne ihn.»
Ein Missverständnis um Karin Keller-Sutter ist, dass man einer rechtsbürgerlichen Politikerin offenbar leicht Feingefühl abspricht oder emotionale Intelligenz – und sei diese noch so hoch.
23 Jahre später, Mitte Dezember 2024 im Bundeshaus: Karin-Keller Sutter ist soeben zur Bundespräsidentin der Schweiz gewählt worden.
Sie hat wieder einen Ruf. Sie gilt jetzt auch als Machtfrau. Vor wenigen Tagen erschien im Tages-Anzeiger ein grosses PortraitExterner Link über sie. Es beschreibt sie – nicht zum ersten Mal – als «die mächtigste Politikerin der Schweiz».
Makel der Macht
In der Schweiz, wo die Staatsgewalt haarfein verteilt und nur auf beschränkte Zeit verliehen wird, ist Macht ein Makel. Karin Keller-Sutter nutzt den Tag ihrer Wahl zur Bundespräsidentin, um auch dieses neue Etikett abzustreifen. Sie spielt ihren Einfluss herunter. «Fast alles ist relativ», ist der erste Satz ihrer Ansprache ans Parlament, und relativ sei auch diese Wahl.
Es gibt die These, dass eine Frau an der Macht skeptischer beäugt wird als ein Mann in derselben Position. Im Dezember 2024 zeichnet die Schweizer Bevölkerung die Illustration dazu.
Den grössten Einfluss schreibt sie gemäss Wahlbarometer 2024Externer Link dem SVP-Bundesrat Albert Rösti zu, er ist auch gleichzeitig der Beliebteste im Bundesrat. Für fast ähnlich einflussreich halten die Schweizer:innen Karin Keller-Sutter. Sie ist aber deutlich unbeliebter.
«Das macht etwas mit den Menschen»
Wie sehen Sie im Moment das Land, fragen wir an diesem Tag. «Uns geht es gut», antwortet sie. Die Wirtschaft habe kaum Probleme. «Wenn wir jammern, dann auf hohem Niveau.»
«Und trotzdem sind wir dieser Unsicherheit ausgesetzt», sagt sie. Sie erwähnt Russlands Krieg gegen die Ukraine, den Klimawandel, Autokraten, die den Gang der Welt mitbestimmen, Migrationsbewegungen, zerbrochene Regierungen. Es ist eine dunkle Bestandesaufnahme.
«Die Leute im Land spüren, dass das Entwicklungen sind, die man wahrscheinlich kaum fernhalten kann.» Dafür sei die Schweiz zu vernetzt. Karin Keller-Sutter spürt: «Das macht etwas mit den Menschen.»
Ausbruch aus der Heimat
In Wil bedient Mutter Rösly Sutter die Gäste. Sie ist die Wirtin im Restaurant «Ilge». Der Vater kümmert sich um Küche und Keller. Als Kind verbringt Karin viel Zeit im Gasthof, es ist Ende der 70er Jahre, Ostschweiz.
Die Mutter spricht fliessend Französisch mit den Kunden aus der Romandie, die nach Wil gekommen sind, um in der Traktorenfabrik «Hürlimann» Fahrzeuge abzuholen. Die Ostschweiz gilt noch heute als industrielles Herz der SchweizExterner Link, hervorgegangen aus dem Erbe der einstigen Textilindustrie.
Als Nachzüglerin muss sie sich in der Familie gegen ihre drei viel älteren Brüder durchsetzen. Auch das Politisieren lernt sie im Wirtshaus. Gute Wirte können mit allen. Sie können diskutieren, ohne dass es gleich Streit gibt.
Restaurant als Lebensschule
Ein Restaurant ist Wirtschaften im Wortsinn, ihre Familie macht es seit Generationen. Jeden Abend verrät die Kasse, wie gut man den langen Tag gearbeitet hat, wie freundlich man war, wie viel man verkauft hat.
Das Französisch hatte Rösly Sutter in einem Welschland-Aufenthalt gelernt. Auch Karin Keller-Sutter geht später, in ihrer Gymnasialzeit, für ein Jahr nach Neuenburg. Nach der Matura diplomiert sie als Dolmetscherin. Sie verbringt ein Jahr in London und ein Semester in Montreal, studiert dort Politikwissenschaften.
«Erwirtschaften vor Verteilen.» Das sei ihr erster Leitsatz, verrät sie später in einem Interview. Der zweite: «Freiheit vor Gleichheit» und der dritte: «Privat vor Staat.»
«Auswandern war nie ein Thema», erzählt sie uns über ihre Zeit im Ausland, und schildert das komplizierte Einreiseprozedere damals in Kanada, die Hürden waren hoch. Ganz anders dann bei ihrer Ausreise: «Die kanadische Einwanderungsbehörde wurde auf meine sehr guten Studien-Noten aufmerksam», erzählt sie. «Sie fragten mich, ob ich nicht bleiben wolle.» Doch sie wollte zurück in die Ostschweiz.
Begeistert vom Liberalismus
Zu ihrer frühen Rebellion gehört, dass sie Punkrock hört und sich im Restaurant weigert, ihren Vater zu bedienen. Eine Jugendphase lang tickt sie links. Doch früh schwenkt sie nach rechts um, begeistert von den Idealen der Aufklärung und den Lehren des Liberalismus, von Eigenverantwortung und Freiheit.
Nach ihrer Rückkehr wendet sie sich ab vom ländlich-katholischen Milieu und tritt 1987, mit 23 Jahren, der wirtschaftsliberalen FDP bei. Als junge, freiheitlich denkende Frau kontrastiert sie mit dem konservativen Umfeld ihrer Herkunft und wird schnell zur Erscheinung, die auffällt.
Sie wird auch Hoffnungsträgerin der FDP, die gerade arg drangsaliert wird. Die Konkurrenzpartei SVP unter Christoph Blocher weidet in dieser Zeit weit in die bürgerlichen Gefilde hinein.
«Glasklar, auf den Punkt»
Gottlieb F. Höpli, der damalige Chefredaktor des St. Galler Tagblatts, erinnert sich in einem GastbeitragExterner Link an «eine junge Frau, die mich durch ihre glasklare und stets auf den Punkt zielende Argumentation beeindruckte». Er beschreibt ihre «fokussierte Sachlichkeit, die sie auch fadengerade kommuniziert».
Sie wird Gemeinderätin, Vorstandsmitglied im kantonalen Gewerbeverband, danach Kantonsrätin, Parteipräsidentin und Regierungsrätin ihres Kantons, Ressort Sicherheit.
«Dass ihre Argumentation, die nie auf den Mann oder die Frau spielt, manchmal spröde wirkt, scheint ihre Wähler nicht zu stören», schreibt Höpli.
Verletzter Gerechtigkeitssinn
Bald fällt ihre Arbeit als Polizeidirektorin auf. Sie arbeitet an Schnellverfahren gegen Hooligans und Verschärfungen im Asylwesen. Es sind nationale Themen, das strahlt aus.
2010 macht ihre Partei sie zur Bundesratskandidatin. Doch ihr Ruf als Hardlinerin, als «Blocher im Jupe», kostet sie die Wahl. Ein Mann macht das Rennen, Johann Schneider-Ammann.
Der Tages-Anzeiger schreibt in erwähntem Portrait: «Keller-Sutter, die Kalte, die Machtgierige, die Unbarmherzige: Das Image der Bundesrätin ist ein Klischee – geschaffen, um den Aufstieg eines politischen Ausnahmetalents zu behindern.»
Ihre bittere Erkenntnis nach dieser Niederlage schildert Keller-Sutter in diesem Text als abgekartetes Spiel: «Ich war nur dazu da, das Wahlticket der Partei aufzuhübschen.»
Sie habe einen grossen Gerechtigkeitssinn, den sie in allem antreibt, sagt sie. Es ist nicht die Niederlage, die ihr zusetzt. Es ist die erfahrene Ungerechtigkeit.
Alle Politik landet beim Geld
2011 kommt sie in den Ständerat. Schnell arbeitet sie sich in die Wirtschafts- und Sozialpolitik ein. Der Staat nimmt ein, der Staat gibt aus. An der Schnittstelle von Erwirtschaften und Verteilen lernt sie die Mechanik von Bundesbern zu bespielen.
Sie hat keine Berührungsängste mit politischen Gegner:innen im Gegenteil, sie macht mit ihnen Deals. Sie kommt in den Kommissionen da entgegen, holt sich dort ein Entgegenkommen.
Locker und unprätentiös wirkt sie im zwischenmenschlichen Umgang. Ideologisch ist sie zwar unbeugsam, aber strategisch flexibel, so wird sie beschrieben. Sie baut Netzwerke und pflegt sie.
Unter der Bundeshauskuppel gibt sie ihrem politischen Handwerk den letzten Schliff. 2018 die Wahl zur Bundesrätin, sie nimmt mit dem Justizdepartement vorlieb, das zunächst für sie übrigbleibt – wider Willen.
Bei der ersten Gelegenheit wechselt sie 2023 ins Finanzdepartement. 30 Jahre in politischen Ämtern haben sie gelehrt: Alle Politik landet irgendwann beim Geld. «Über die Finanzen kann sie im ganzen Bundesratsgremium mitgestalten, das nutzt sie gezielt», sagt Politologe Lukas Golder.
Kritik von Links
Sie startet einen Feldzug gegen die Konzernverantwortungsinitiative und schafft es, dass diese an der Urne knapp gebodigt wird. Gegner:innen werfen ihr vor, sie habe sich als Bundesrätin über Gebühr engagiert. «Königin des Kapitals», titelt die linke Wochenzeitung.
Sie organisiert den Notverkauf der Grossbank Credit Suisse, Stunden bevor deren Kollaps das globale Finanzsystem in den Abgrund reisst. Gegner:innen werfen ihr vor, sie habe den Staat über Gebühr in Verpflichtungen verstrickt. «Das war ein Fehler», titelt die Wochenzeitung zur Staatsgarantie.
Thomas Jordan, der ehemalige Präsident der Schweizer Nationalbank, erinnert sich an die enge Zusammenarbeit. «Sie ist ambitioniert, komplexe Dinge bis in jene Details zu durchdringen, die es für das Verständnis des Ganzen braucht», sagt er uns. «So kommt sie zu seriösen Entscheiden.»
Die «Financial Times» zählt sie 2023 zu den 25 einflussreichsten FrauenExterner Link, sie vereine «Wissen, Mut und Entschlossenheit».
Karin Keller-Sutter streicht Subventionen
2024 organisiert sie ein Sparprogramm, das quer durch den Staat 5 Milliarden Franken zusammenstreichen will. Gegner:innen werfen ihr vor, sie verfolge damit eine versteckte, konservative Agenda. «Im Sparen glaubt Finanzministerin Karin Keller-Sutter, einen Hebel gefunden zu haben, um die gesellschaftlichen Fortschritte der letzten Jahre zunichtezumachen», schreibt die Wochenzeitung.
Sie selbst betont in Interviews, es gehe ihr stets um den handlungsfähigen Staat. «Es ist ein Irrtum zu glauben, dass der Liberalismus den Staat schwächen will», sagt sie etwa in der NZZ.
Der Sparplan ist ambitioniert. Es wirkt fast so, als hätte sich Karin Keller-Sutter zum härtesten Job der Schweiz auch noch die härteste Aufgabe gesucht: Subventionen streichen. Die Debatten darum werden ihr Präsidialjahr prägen. Es wird Lärm geben, doch sie liebt Punkrock, immer noch. Und es wird anstrengend. Ihr Hobby ist Boxen.
Editiert von Samuel Jaberg
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