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EU-Beitritts-Manifest als Gegen-Zeichen

Der EU-Beitritt: Das Dossier erwartet das Parlament in der kommenden Legislatur ohnehin. Keystone

72 Schweizer Persönlichkeiten lancierten am Mittwoch ein Manifest für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU.

Der Sieg der Schweizerischen Volkspartei, die klar antieuropäisch ist, scheint die Pro-Europäer aus der Reserve zu locken.

Die Deutschschweizer Zeitungen brachten die Meldung gar nicht, und auch im Westschweizer «Le Temps» schaffte es die Nachricht nicht auf die Frontseite: «Einige Dutzend Persönlichkeiten unterzeichnen ein Manifest für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU.»

Das Thema EU-Beitritt galt während des Wahlkampfs bis Mitte vergangenen Oktober als «heisse Kartoffel» und war von den Parteien kaum thematisiert worden. «Jetzt wird so getan, als ob Beitrittsverhandlungen nicht zur Diskussion stehen», konstatiert Almut Bonhage, Generalsekretärin der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz (NEBS), gegenüber swissinfo.

Die NEBS sei von der Erstunterzeichner-Gruppe angegangen worden, ihr logistisch zu helfen. «Das Manifest ist keine Aktion der NEBS», sagt Bonhage.

Aussenpolitisches Problem Nr. 1

«Es ist undenkbar, dass das neue Parlament das aussenpolitische Problem Nummer eins der Schweiz ignoriert», sagt der bekannte Westschweizer Publizist Jacques Pilet gegenüber swissinfo. Man müsse die Debatte wieder lancieren, nachdem sie während dem Wahlkampf unter dem Deckel gehalten wurde.

«Je mehr die Zeit voranschreitet», sagt der Kolumnist des französischsprachigen Wochenmagazins l’Hébdo, «desto klarer zeichnet sich ab, dass der Weg der bilateralen Verträge schwieriger wird, dass die Verträge nicht auf den Punkt gebracht werden und zeitlich wohl beschränkt gelten.»

Auch der Umstand, dass wirkliche Kenner der EU-Beitritts-Materie wie Jakob Kellenberger oder Benedikt von Tscharner ihre Unterschrift gegeben haben, unterstreiche das Gewicht dieses Manifests, sagt Pilet. Beide waren massgeblich an den Verhandlungen bei den ersten bilateralen Verhandlungen mit der EU beteiligt gewesen.

«Mindest-Regierungsprogramm»

Rolf Bloch, ein weiterer Erstunterzeichner und Mitautor des Manifests, sagt zum schwierigen Zeitpunkt der Lancierung: «Im Hinblick auf die kommenden Bundesrats-Wahlen sollte man ja eine Art Mindest-Regierungsprogramm bereit halten. Wir möchten hier etwas beeinflussend wirken und darauf drängen, dass die Europa-Frage wieder traktandiert wird.»

«Die Europa-Beitrittsfrage steht in der kommenden Legislatur-Periode zur Debatte», sagt auch Bonhage. Doch eine Legislatur dauert vier Jahre. «Wichtig ist, dass die Beitrittsfrage in der kommenden Legislatur als Thema überhaupt dran kommt», sagt Bloch gegenüber swissinfo. «Vielleicht verbessert sich das Umfeld wieder.»

Die Umstände sind in der Tat zur Zeit ungünstig. Mit der Erstarkung der Schweizerischen Volkspartei (SVP) und der Möglichkeit, dass sie künftig sogar zwei Bundesräte stellt, wächst auch die EU-kritische Haltung der Regierung und des Parlaments.

Ungünstig für das Manifest ist auch, dass sich Teile der Freisinnigen und viele Romands, ursprünglich zu einem EU-Beitritt positiv eingestellt, in der Zwischenzeit von der EU eher distanziert haben. «Das ist ja logisch. Wieso soll sich die Bevölkerung mit dieser Frage beschäftigen, wenn die Politiker alles tun, um sie unter den Teppich zu wischen», sagt dazu Jacques Pilet.

Im Manifest selbst wird verlangt, dass im Jahr 2004 Beitrittsverhandlungen eingeleitet werden. Das Manifest wird zu Beginn der neuen Legislatur, die Anfang nächster Woche beginnt, an alle Parlamentarierinnen und Parlamentarier verteilt und kann von einer breiten Öffentlichkeit unterschrieben werden.

Kritik des «autonomen Nachvollzugs» der EU-Gesetze

Die Unterzeichner bringen im Manifest zum Ausdruck, dass die Schweiz nur durch den Beitritt ihre Interessen würdig vertreten und ein den anderen Ländern Europas gleichgestellter Partner sein könne. «Zur Zeit beschränkt sich die Schweiz darauf, EU-Recht abzuschreiben», steht in der Pressemitteilung zum Manifest.

Die Unterzeichner sprechen damit den oft kritisierten, so genannten «autonomen Nachvollzug» an, bei dem die Schweizer Gesetzgeber oft gezwungen sind, aus wirtschaftlichen Gründen EU-Standards und -Gesetze ebenfalls zu übernehmen. Entweder im nachhinein oder «in vorauseilendem Gehorsam», immer aber ohne Mitsprache.

EU-Abhängigkeit und gleichzeitig Verunglimpfung

Das Manifest konstatiert, dass «unsere Abhängigkeit von der EU täglich zunimmt, doch wir auf ihre politische Ausrichtung noch auf ihre Entwicklung Einfluss nehmen können».

Dem stehe eine «andauernde Verunglimpfung der EU» gegenüber. Laut den Erstunterzeichnern «darf die Schweiz nicht darauf wetten, dass die EU scheitern wird».

Die Zukunft der Jungen

Gegen die Illusion, eine isolierte Schweiz werde ihre Souveränität besser behaupten als eine, die in Europa mitentscheidet, wendet sich auch Mitunterzeichnerin Madeleine von Holzen. Die Direktorin von swissUp.ch, dem mehrfach ausgezeichneten Web-Portal, das die Qualität von Bildungsgängen miteinander vergleicht, möchte in der Schweiz «von der Reaktion auf die Aktion umschwenken».

«Die Schweiz sollte ihr Schicksal etwas mehr in die eigenen Hände nehmen», sagt sie gegenüber swissinfo. «Nur schon der Jugend zuliebe. Schliesslich gehört dieser die Zukunft des Landes.»

swissinfo, Alexander Künzle und Anne Rubin

Sechs Namen standen am Anfang dieses Manifests, davon vier bekannte:
Die Publizisten Jacques Pilet und Hervé de Weck, der Lausanner Professor Hans Ulrich Jost, der Nomes-Gründer François Cherix.
Weitere Mitautoren und Erstunterzeichner:
Altbundesräte wie Pierre Aubert, Ruth Dreifuss, René Felber, Rudolf Friedrich
Künstler, Schriftsteller und Prominente: Peter Bichsel, Mario Botta, Bernard Comment, Richard Ernst, Jacques Herzog, Franz Hohler, Hans Küng, Hugo Loetscher, Carola Meier-Seethaler, Nico, Claude Nicollier, Michael Ringier, Marco Solari, Roger de Weck, Urs Widmer, etc.
Unternehmer wie Rolf Bloch, Thomas Bechtler, Michael Girsberger, Dario Kuster, Markus Rauh, Andreas Reinhart, Ernst Thomke, etc.
Politprominenz: Daniel Brélaz, Jakob Kellenberger, Rudolf Wyder, Charles Kleiber, Elmar Ledergerber, Philippe Lévy, Benedikt von Tscharner, etc.

Die Frage eines EU-Beitritts ist das aussenpolitische Problem Nr. 1 der Schweiz.
Rund 70 Schweizer Persönlichkeiten haben ein Manifest für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen in der kommenden Legislatur unterzeichnet.
Kritik an der reaktiven Schweizer Haltung des «Nachvollzugs».

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