EU-Beitrittsgesuch bleibt in Brüssel
Die Regierung hat den allfälligen EU-Beitritt der Schweiz vom Ziel zur "längerfristigen Option" zurückgestuft.
Im Aussenpolitischen Bericht von 1993 war der EU-Beitritt noch als «strategisches Ziel» der Europa-Integrationspolitik aufgeführt, im Bericht 2000 noch als Ziel.
Das seit Mai 1992 in Brüssel liegende und eingefrorene EU-Beitrittsgesuch wird nicht zurückgezogen, wie das aus verschiedenen Kreisen gefordert worden war.
Nach der euroapolitischen Klausur des Bundesrates (Landesregierung) vom Mittwoch ist der Beitritt der Schweiz zur Europäischen Union noch eine von fünf Optionen. Wie schon zuvor angekündigt, wird das Integrationsbüro die Optionen mit ihren Vor- und Nachteilen bis Mitte 2006 in einem Bericht darlegen.
Bundesrat bleibt offen
Aussenministerin Micheline Calmy-Rey sagte, die Optionen reichten vom Verwalten des bisher auf dem bilateralen Weg Erreichten über das Verhandeln neuer bilateraler Abkommen, andere Formen der multilateralen Zusammenarbeit («EWR 2») und einen EU-Beitritt «light» (mit Opting-Out) bis zum EU-Vollbeitritt.
Der Bundesrat habe bewusst keine Präferenzen und Prioritäten gesetzt, sagte Wirtschaftsminister Joseph Deiss. Er möchte sich alle Optionen offen halten. Das von Justizminister Christoph Blocher angeregte zehnjährige Moratorium in der Europapolitik sei keine Option und in der Klausur kein Thema gewesen.
Rückzug unnötig
Das EU-Beitrittsgesuch entfalte seit zwölf Jahren keine rechtliche Wirkung mehr, sagte Deiss. Nach dem EWR-Nein vom Dezember 1992 sei der EU im Februar 1933 mitgeteilt worden, dass die Schweiz keine Beitritts-Verhandlungen aufnehmen wolle.
Ein Rückzug des Gesuchs sei daher weder nötig noch bringe er einen Nutzen; er würde höchstens zu einem Erklärungsbedarf im In- und Ausland führen.
Dementsprechend empfiehlt der Bundesrat die Motionen der Fraktion der Schweizerischen Volkspartei (SVP) und einer Gruppe bürgerlicher Parlamentarier um den freisinnigen Nationalrat Gerold Bührer zur Ablehnung. Beide im Nationalrat, der grossen Parlamentskammer, eingereichten Vorstösse fordern den Rückzug des Beitrittsgesuchs.
Solidaritätsbeitrag
Im Rahmen der europapolitischen Standortbestimmung bekräftigte die Regierung den bilateralen Weg und bezeichnete diesen als «erfolgreiche Interessenpolitik der Schweiz». Die Regierung bestätigte auch ihren Willen, die neuen EU-Staaten mit einer Milliarde Franken über fünf Jahre zu unterstützen.
Diesen Beitrag werde die Schweiz unabhängig vom EU-Kohäsionsprogramm zusammen mit den Empfängerländern einsetzen, sagte Calmy-Rey. Es sei kein «Kohäsionsbeitrag», sondern ein Solidaritätsbeitrag zur Verringerung der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten in den zehn neuen EU-Staaten.
Der Schweizer Kohäsionsbeitrag bleibt EU-intern allerdings noch umstritten: EU-Fachdiplomaten der EFTA-Gruppe konnten sich bisher nicht darauf verständigen, dass nur die zehn neuen EU-Mitglieder vom Kohäsionsbeitrag profitieren sollen.
Neue Gespräche werden geprüft
Nach den beiden Abstimmungen über die Abkommen zu Schengen/Dublin sowie zur Ausdehnung der Personenfreizügigkeit hat nach Ansicht des Bundesrates die rasche Umsetzung der neuen Verträge nun erste Priorität. Das Freizügigkeits-Abkommen soll Anfang 2006, Schengen/Dublin 2008 in Kraft treten.
Einzelne Interessenbereiche sollen im Hinblick auf mögliche bilaterale Verhandlungen weiter geprüft werden. Bundesrat Deiss nannte den Strommarkt, das Satelliten-Navigationssystem Galilei, die öffentliche Gesundheit und den Schutz der Herkunftsbezeichnungen (AOC). Ein weiteres Paket von Abkommen sei indes nicht geplant.
Befürworter und Gegner teilweise befriedigt
Der Europaentscheid der Regierung hat am Mittwoch die Befürworter, aber auch Gegner eines EU-Beitritts befriedigt. Die Sozialdemokratische Partei (SP) sprach von einem Erfolg für die Öffnungspolitik.
Auch die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) begrüsste den Entscheid. Die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP), deren Präsident Fulvio Pelli sich zuvor für einen Rückzug stark gemacht hatte, teilte mit, die Bedeutung des Gesuchs sei ohnehin gering. Die Wirtschaft freute sich, dass der Beitritt nur noch als Option gewertet wird. Die Schweizreische Volkspartei (SVP) warf dem Bundesrat Heuchelei vor.
Der Entscheid der Regierung dürfte auch seitens der EU auf Zustimmung stossen. Diana Wallis, die Präsidentin der für die Schweiz zuständigen Delegation des EU-Parlaments, hatte in verschiedenen Interviews erklärt, es gebe keinen Grund, das Gesuch zurückzuziehen.
swissinfo und Agenturen
Im Mai 1992 deponierte die Schweiz in Brüssel ein EU-Beitrittsgesuch.
Nachdem dem die Schweizerinnen und Schweizer einen Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) im Dezember 1992 abgelehnt hatten, wurde das Gesuch um Verhandlungen für einen Beitritt in Brüssel auf Eis gelegt.
Der Entscheid, das EU-Beitrittsgesuch nicht zurückzuziehen, erfolgte am selben Tag, an dem die Regierung ihr Einverständnis gab für die Eröffnung einer Vertretung der EU-Kommission in Bern.
Die EU-Kommission hatte am 19. August eine entsprechende Anfrage gestellt.
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