EU: Kein Schengen ohne Personenfreizügigkeit
Europa warnt die Schweiz: Im Fall der Ablehnung der erweiterten Personenfreizügigkeit am 25. September könnte Schengen/Dublin nicht in Kraft treten.
Die Reaktion der Schweizer Landesregierung auf diese Aussage reicht von ungehalten bis überrascht.
Die EU-Aussenkommissarin Benita Ferrero-Waldner freut sich über das Ja des Schweizer Stimmvolkes zu Schengen. Doch ohne Zustimmung zur Ausdehnung der Personenfreizügigkeit sei Schengen/Dublin nicht zu haben, machte Benita Ferrero-Waldner am Montag in Brüssel klar.
Ferrero-Waldner würdigte das Ja vom Sonntag als «sehr positives Zeichen». Das Schweizer Volk habe souverän entschieden «und sich auch nicht von irgendwelchen demagogischen Kampagnen irreführen lassen».
Ohne Freizügigkeit kein Abbau der Grenzkontrollen
Sie hoffe, dass die Abstimmung im September ebenso positiv ausfallen werde, ergänzte die österreichische EU-Kommissarin. Alle 25 EU-Staaten müssten gleich behandelt werden. Andernfalls wären die Abkommen von Schengen/Dublin nicht umsetzbar.
«Ohne vollständige Freizügigkeit ist der Abbau der Grenzkontrollen nicht möglich, und es ist auch für das In-Kraft-Treten von Schengen und Dublin eine wichtige Voraussetzung», sagte die EU-Aussenkommissarin.
Guillotine-Klausel der Bilateralen I
Bei einem Nein der Schweiz «hätten wir ein Problem», sagte Ferrero-Waldner weiter. Sie verwies auf die Bilateralen I, welche durch eine so genannte Guillotine-Klausel miteinander verbunden sind. Die Beziehungen EU-Schweiz wären nicht mehr die selben, vor allem «wenn man die Bilateralen I kündigen müsste.»
Auf die Frage nach den zukünftigen Beziehungen EU – Schweiz nach einem Nein zur Personenfreizügigkeit sagte Ferrero-Waldner: «Es wären sicher nicht die selben Beziehungen, wenn man vor allem die Bilateralen I kündigen müsste.» Ob die EU dies wirklich machen würde, ist unklar.
Calmy-Rey ungehalten – Blocher überrascht
Die Schweizer Aussenministerin Micheline Calmy-Rey hat ungehalten auf die Ankündigung aus Brüssel reagiert, dass Schengen ohne Ausdehnung der Personenfreizügigkeit nicht zu haben sei. Darüber werde die Schweiz frei und demokratisch entscheiden.
Es sei überraschend, dass sich Brüssel darüber im Voraus äussere, liess Calmy-Rey in einer Stellungnahme verlauten.
Justizminister Christoph Blocher zeigte sich überrascht über die Verbindung der beiden Dossiers. Bisher sei er davon ausgegangen, dass Schengen und die Personenfreizügigkeit nicht gekoppelt seien.
Er höre das nun zum ersten Mal. Diese Frage müsse nun abgeklärt werden, sagte Blocher.
Gereizte und gelassene Bundesratsparteien
Die Schweizerische Volkspartei (SVP) reagierte empört auf die Aussagen von Ferrero-Waldner über die bevorstehende Abstimmung. «Das ist Erpressung», sagte SVP-Präsident Ueli Maurer. Schengen sei unabhängig ausgehandelt worden. Das Vorgehen bestätige auch, dass die EU ein unzuverlässiger Verhandlungspartner sei.
Anders tönt es bei der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SP). Es handle sich weder um einen Druckversuch noch um eine Drohung, sondern um eine Erklärung, sagte SP-Sprecher Jean-Philippe Jeannerat. Die EU-Aussenkommissarin habe einfach auf den inneren Zusammenhang zwischen den bilateralen Verträgen hingewiesen.
Nicht überrascht ist die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP). Alle bilateralen Verträge hingen zusammen, sagte Generalsekretär Reto Nause. Schengen mache ohne Fundament keinen Sinn. Aus demokratie-politischen Überlegungen sei es klar, dass Schengen von der Ausweitung der Personenfreizügigkeit abhängig sei. Es könne nicht zwei Klassen von EU-Bürgern geben.
Bei der FDP gibt man sich gelassen. Die EU müsse sich um ihre eigene Probleme kümmern und die Schweiz müsse unabhängig entscheiden, sagte FDP-Sprecher Christian Weber. Jedenfalls werde sich das Problem nicht stellen, weil die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit am 25. September angenommen werde.
Für Beibehaltung EU-Beitrittsgesuch
Während sich Ferrero-Waldner nicht zum EU-Beitrittsgesuch der Schweiz äussern wollte, verhehlte Justizkommissar Franco Frattini nicht, dass er wünschte, dass es «am Platz» belassen werde.
Es sei eine «positive Botschaft», dass die Schweiz einen «strukturierten Dialog» mit ihrem europäischen Partner wolle.
swissinfo und Agenturen
Europa warnt die Schweiz, dass im Fall einer Ablehnung des Abkommens zum freien Personenverkehr am 25. September die Schengen/Dublin-Verträge nicht in Kraft treten könnten.
Zwei Mitglieder des Bundesrates, Micheline Calmy-Rey und Christoph Blocher, zeigten sich von dieser Aussage überrascht und irritiert.
Die Ausweitung des Freien Personenverkehrs auf die 10 neuen EU-Mitgliedsländer (Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakien, Slovenien, Tschechien, Ungarn und Zypern) ist ein Zusatz zu einem der sieben bilateralen Verträge welche die Schweiz im Jahr 2000 mit der EU geschlossen hat.
Mit der heutigen Äusserung sagt die Europäische Kommission zum ersten Mal offiziell, dass sie den freien Personenverkehr und das Abkommen von Schengen miteinander verbunden sieht.
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