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EU-Osterweiterung: Angst vor Lohndumping

Werden Billigarbeiter die Schweizer Grenze überrennen? Keystone

Bis spätestens in 7 Jahren öffnet sich der Schweizer Arbeitsmarkt schrittweise für die neuen EU-Länder.

Von Links wie Rechts wird befürchtet, dass billige Arbeitskräfte aus Zentral- und Osteuropa Schweizern ihre Arbeitsplätze streitig machen könnten.

«Wir haben einen grossen Schritt in Hinblick auf eine Lösung gemacht», sagte Dieter Grossen, stellvertretender Direktor des Bundesamts für Zuwanderung, Integration und Auswanderung, am Dienstagabend in Brüssel.

Bei der neunten Verhandlungsrunde über die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU wurden damit die meisten Detailfragen geklärt. Offen bleibt noch die genaue Festlegung der Übergangsfristen. Es geht vor allem darum, wann die 7-Jahre-Frist zu laufen beginnt.

Abkommen statt Mitgliedschaft

Weil die Schweiz nicht Mitglied der EU ist, hat sie mit den 15 heutigen Mitgliedländern ein Abkommen getroffen, das den freien Personenverkehr zwischen der Schweiz und der EU regelt.

Das Personenfreizügigkeits-Abkommen öffnet schrittweise auch die Arbeitsmärkte. Schweizer haben es so einfacher, in Ländern der EU zu leben und zu arbeiten. Umgekehrt wird es für Personen aus EU-Staaten einfacher, sich in der Schweiz niederzulassen und hier ihren Beruf auszuüben.

Angesichts der bevorstehenden EU-Osterweiterung kam nun die Befürchtung auf, dass es zu einer Einwanderungswelle von Personen aus Zentral- und Osteuropa in die Schweiz kommen könnte. Deshalb soll der freie Personenverkehr für die neuen EU-Staaten nicht von Anfang an gelten.

Ausdruck von Fremdenfeindlichkeit

Die rechtsbürgerliche und europakritische Schweizerische Volkspartei (SVP) steht an der Spitze der Bewegung, die Personen aus den neuen osteuropäischen EU-Ländern vom Abkommen über den freien Personenverkehr ausschliessen möchte.

Eine solche Haltung der SVP sei fremdenfeindlich und irrational, findet René Schwok, Professor für Europäische Politik an der Universität von Genf.

«Wenn die SVP sagt, dass sie – so ihre Worte – keine Invasion von Personen aus Mittel- und Osteuropa wolle, ist das schlicht xenophob», sagte Schwok gegenüber swissinfo. «Die Angst, dass sich plötzlich beispielsweise hunderttausende von Polen in der Schweiz niederlassen, ist ziemlich irrational.»

Angst vor Lohndumping

Opposition gegen das Wachsen der EU im Osten kommt aber nicht nur von rechter Seite, sondern auch von der politischen Linken, vor allem von den Gewerkschaften.

«Deren Haltung», so Schwok, «basiert auf der Angst vor Lohndumping, und diese ist nicht unbegründet.» Denn im Gegensatz zu den meisten EU-Ländern gebe es in der Schweiz keinen Mindestlohn.

Bestimmungen über Mindestlöhne gebe es zwar in so genannten Gesamtarbeits-Verträgen (GAV), doch würden diese nur für einige Branchen gelten.

«Die Gewerkschaften verlangen nun von der Regierung, dass es zu keinem Lohndumping kommen darf», erklärt der Politikwissenschaftler. Zudem müssten, nach Meinung der Schweizer Arbeitnehmer-Organisationen, die Gesamtarbeits-Verträge auf weitere Berufszweige ausgedehnt werden.

Menschen bleiben lieber zuhause

Die Schweiz ist aber nicht das einzige Land, in dem Bedenken gegen eine Öffnung des Arbeitsmarktes für die zehn neuen EU-Mitgliedländer laut wurden.

Fast alle, nämlich 14 von 15 EU-Staaten, haben Massnahmen ergriffen, um den Strom von Arbeitssuchenden, namentlich aus Mittel-und Osteuropa, zu begrenzen.

Die meisten dieser Beschränkungen sollen zwei Jahre gelten. Es wird aber schon heute davon ausgegangen, dass sie länger Gültigkeit haben werden.

Wie Schwok glaubt auch Diana Wallis, eine britische Abgeordnete im EU-Parlament, dass Ängste vor einer Masseneinwanderung grundlos seien.

«Es gibt keine Anzeichen, dass es so etwas geben wird, weder in der Schweiz, noch in einem anderen EU-Staat», so Wallis zu swissinfo.

Sorgfältige Analysen zeigten, dass solche Ängste auch deshalb unbegründet seien, weil die Leute in Zeiten des Aufschwungs lieber in ihrem Heimatland bleiben würden. Dies hätten die Erfahrungen mit der bisherigen Erweiterung der EU gezeigt.

7 Jahre Übergangsfrist



Die Schweiz hat sich eine Übergangsfrist von sieben Jahren ausgehandelt, bevor sie die Grenzen auch für die neuen EU-Mitgliedstaaten ganz öffnen muss.

Allerdings ist noch nicht klar, wann die Übergangsbestimmungen genau in Kraft treten werden. Zur Debatte steht der Termin der Osterweiterung, also der 1. Mai, oder aber ein späterer Zeitpunkt.

Ein endgültiger Entscheid darüber, was für Kontrollen und Quoten während der sieben Jahre gelten sollen, steht ebenfalls aus.

Sogar nach Ablauf der Übergangsfristen gibt es keine Garantie, dass die Schweiz in der Lage sein wird, ihren Arbeitsmarkt für die zehn neuen EU-Mitgliedstaaten vollständig zu öffnen.

Gegner – allen voran die SVP – könnten die Vorlage mit 50’000 Referendums-Unterschriften zur Abstimmung bringen.Gemäss Schwok dürften aber sieben Jahre genug sein, um der Bevölkerung eine fundierte Meinungsbildung zu erlauben.

«Sobald die Leute sehen, dass keine ‹Invasion› stattgefunden hat, werden allfällig bestehende, irrationale Ängste einer viel realistischeren Einschätzung der Lage weichen», sagt Schwok.

swissinfo, Jonathan Summerton

Am 1. Mai 2004 wird die Europäische Union (EU) von bisher 15 auf 25 Mitgliedsstaaten anwachsen.

Das Abkommen zwischen der Schweiz und den 15 EU-Staaten über die Personenfreizügigkeit trat im Juni 2004 in Kraft.

Ab Juni 2004 werden Schweizer Bürger auf dem Arbeitsmarkt gegenüber Bürgern aus den heutigen 15 EU-Ländern nicht länger bevorzugt.

Gegenüber den 10 neuen EU-Ländern hat die Schweiz eine siebenjährige Übergangsfrist ausgehandelt. Erst dann muss ihr Arbeitsmarkt etwa für Polen oder Slowenen vollständig geöffnet werden.

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