Eurokrise: Wäre das Schweizer Modell eine Lösung?
Politiker und Wirtschaftsexperten in ganz Europa zerbrechen sich den Kopf darüber, wie den verschuldeten Ländern aus der Patsche zu helfen wäre. Auch Fachleute aus der Schweiz publizieren Lösungsvorschläge - nach helvetischem Vorbild.
Thomas Held, unabhängiger Berater und bis vor einem Jahr Direktor der liberalen Denkfabrik ‹Avenir Suisse›, hat Anfang Juli 2011 im Magazin des Tages-Anzeigers den Nationalen Finanz-Ausgleich (NFA) der Schweiz als Lösungsmodell für die Transferprobleme der EU vorgeschlagen.
Beim NFA flössen Jahr für Jahr rund 4,5 Mrd. Franken, also 1% des Bruttoinlandsprodukts, von den reicheren in die ärmeren Kantone. Dies entspreche einem Ausgleich der Ressourcen, womit die finanzielle Leistungsfähigkeit der Kantone etwas angeglichen werde.
Held betont den Umstand, dass diese interkantonale Umverteilung auf Dauer angelegt sei: «Gerade in einem wenig zentralistischen Europa müsste eine dauerhafte Unterstützung strukturschwacher Länder an die Stelle hektischer Rettungsaktionen treten.»
Held illustriert die Ausgleichsidee am Beispiel Zürich/Bern: Kein Zürcher rechne ernsthaft damit, dass in Bern «plötzlich Wirtschaftsdynamik ausbrechen» würde. Dennoch zahle seit Jahrzehnten der bevölkerungsreiche Wirtschaftsmotor Kanton Zürich Ausgleichsgelder für das ebenfalls bevölkerungsreiche, aber strukturschwache Bern.
Kulturunterschiede Schweiz – Europa
Andreas Huber, Sekretär der Konferenz der kantonalen Finanzdirektoren (FDK), gibt sich gegenüber diesem Finanzausgleichs-Vorschlag helvetischer Prägung eher skeptisch: «Solange zum Beispiel die griechische Regierung Schwierigkeiten hat, Steuern überhaupt eintreiben zu können, kann man so ein komplexes Ausgleichsinstrument wie den Finanzausgleich vergessen.»
Kulturelle oder mentalitätsmässige Prägung, Staatsverständnis oder das Verhältnis Bürger–Staat spielten beim Funktionieren eines Finanzausgleichs eine viel wichtigere Rolle, als man meine. «Die Schweiz wurde über Jahrhunderte von unten nach oben gebaut, was sich durch die Institutionen hindurchzieht. Ein komplexes Instrument lässt sich deshalb nicht einfach auch von oben nach unten dekretieren und umsetzen.»
Obschon in der Schweiz ein breiter Konsens bezüglich Finanzausgleich bestehe, sei die konkrete Umsetzung äusserst kompliziert. «Ohne professionelle und korruptionsfrei funktionierende Steuer- und Finanzverwaltungen auch in den strukturschwachen Kantonen, Regionen oder eben europäischen Ländern funktioniert ein Finanzausgleich nicht», so Huber.
Ausserdem funktioniere der Schweizer Finanzausgleich in einem Kontext beispielsweise einer landesweiten AHV-Rentenversicherung, einer Landwirtschaftspolitik oder einer Arbeitslosenversicherung, die ebenfalls national ausgleichend wirken.
Bundesstaat ja – Zentralismus nein
Die Grundidee, dass Schweizer Institutionen auch für die Lösung europäischer Probleme als Beispiel dienen können, möge richtig sein, findet hingegen der Schweizer Ökonom David Stadelmann von der Universität Freiburg. Würden sie jedoch in zentralistisch aufgebaute Staaten übertragen, mache das keinen Sinn.
Und «heute ist Griechenland einer der zentralisiertesten Staaten in Europa», sagt er gegenüber swissinfo.ch. Auch Portugal sei hoch zentralisiert. Der Zentralismus sei Gift für die Disziplin der öffentlichen Haushalte und die Steuermoral eines Landes.
Implizit hiesse das, nicht der griechische oder portugiesische Bürger an sich habe eine niedrige Steuermoral, sondern der übertriebene Zentralismus führe zu einem solchen Verhalten. Weil es keine haushaltspolitische Finanzverantwortlichkeit der Gebietskörperschaften gebe, sei auch die Verschuldung entsprechend hoch.
Eine ausgeprägte regionale oder lokale Eigenverantwortung wie in den Schweizer Kantonen und Gemeinden sei einer der entscheidenden Gründe für die Haushaltsdisziplin auf allen Ebenen.
Zentralistisch, aber schwach
Die griechischen oder portugiesischen zentralistischen Regierungen seien zudem keine starken Regierungen, sondern dienten als «zentrale Marktplätze fürs Verteilen von Subventionen», so Stadelmann. Alle am politischen Prozess Beteiligten versuchten, auf Kosten der Allgemeinheit Geld aus der Zentralregierung in ihre Regionen zu locken. «Jeder will für sich und seine Wähler mehr rausholen, aber keiner setzt sich ein für eine allgemeine Sparsamkeit des Regierungsbudgets.»
Der Schweizer Rat für eine Lösung der Probleme dieser Länder bestehe deshalb darin, lokale finanzpolitische Verantwortlichkeiten aufzubauen. «Aber darüber spricht ja die EU nicht. Sie spricht nur über mehr Steuern oder weniger Ausgaben.» Dabei müsste jede vernünftige EU-Finanzreform finanzpolitisch eigenverantwortliche Institutionen wie in der Schweiz mit einbauen.
Schweizer Modelle werden nicht beachtet
«Das Schweizer Problem dabei ist, dass unsere Vorschläge nicht wirklich gehört werden», so Michael Fust von der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz (Nebs). Die Nebs setzt sich für einen Beitritt der Schweiz zur EU ein. «Es ist daher wohl zu spät, als dass unsere Institutionen noch zu Exportschlagern für die EU werden könnten.»
Er zweifelt daran, dass die EU-Institutionen das Schweizer Finanzausgleichs-Modell überhaupt vor ihren Radar bringen: «Wir hätten zwar eigentlich gute Modelle zur Verfügung, könnten sie aber nicht einbringen.»
So habe man beispielsweise bei Fragen zur Umsetzung der Europäischen Bürgerinitiative die direktdemokratischen Modelle der Schweiz nicht zu Rate gezogen, «obwohl wir viele der diskutierten Probleme bei uns längst gelöst haben».
Gäbe es aber eines Tages wirklich einen innereuropäischen Finanzausgleich, so vermutet Fust, könnte auch die Schweiz als Quasi-Mitglied nicht abseits stehen. Ähnlich wie beim Kohäsionsfonds, an dem die Schweiz sich aus Gründen der Binnenmarkt-Logik ebenfalls beteilige.
Am Donnerstag treffen sich in Brüssel die Staats- und Regierungschefs der Eurozone, um wieder einmal über die Eurokrise und die Griechenland-Kredite zu verhandeln.
Am Westschweizer Radio bezeichnete der Ökonom Stéphane Garelli die Lösungsdiskussionen vor dem Treffen als von «Kurzsichtigkeit und Gedächtnisschwund» gekennzeichnet.
Denn Schulden-Restrukturierungen seien kein neues Thema. Im 1956 gegründeten «Club von Paris» seien bisher 422 Restrukturierungs-Abkommen über die Schulden von 88 Ländern geschlossen worden.
Die Verfahren seien demnach längst bekannt und erprobt. Als erstes gebe es jeweils eine 3- bis 5-jährige Tilgungserstreckung, während der keine Zinsen und Rückzahlungen erhoben werden.
Zweitens zeige die Erfahrung, dass es ohne Einbindung des Privatsektors nicht gehe.
Drittens müsse darauf geachtet werden, dass die Wirtschaft des entsprechenden Landes im Stande bleibt, die Rückzahlungen zu leisten.
Griechenland jedoch befindet sich in einer Rezession (-5% BIP-Schwund). Es wäre also absurd, dem Land jetzt Rückzahlungen aufzuerlegen.
Garelli vergleicht die Situation mit 1919, als nach dem 1. Weltkrieg Deutschland Reparationszahlungen aufgezwungen wurden, die es nicht bezahlen konnte. Mit den bekannten politischen Folgen für das Land.
David Stadelmann schlug bereits vor mehr als einem Jahr zu Beginn der Krise in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vor, Deutschland könnte ähnlich einem Grossinvestor den Griechen Kredite zu Zinsen gewähren, die günstiger wären als jene auf dem Finanzmarkt.
Gleichzeitig müsste es aber in Griechenland politische Kontrollaufgaben ausüben. Die Griechen würden dies angesichts der korrupten eigenen Politikerkaste, «deren Misswirtschaft [sie] satt» hätten, akzeptieren.
Stadelmann beruft sich dabei auf das 19. Jahrhundert, als genau dies schon einmal praktiziert worden war.
Das damals bereits hochverschuldete Griechenland wurde durch eine Anleihe zahlungsfähig gehalten. Gleichzeitig war der bayerische Prinz Otto von Wittelsbach als Regent nach Griechenland geschickt worden, um Kontrollaufgaben zu übernehmen.
Nach deutschem Vorbild baute Otto die administrative Basis des modernen Griechenlands auf, holte Landsleute nach Athen und investierte in das Land.
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