Schweiz als Spiegel für das neue, zersplittertere Europa
Am Abend nach der Wahl für das 9. Europäische Parlament herrschte vielerorts Freude: 51 Prozent der Wahlberechtigten oder 8 Prozentpunkte mehr als fünf respektive zehn Jahre zuvor hatten ihre Stimme abgegeben. Der Tiefpunkt mit jeweils 43 Prozent war überwunden!
Die Freude am aktivierten «demos»
Die ersten Kommentare waren positiv. Prominent drückte es Martin Selmayr, der Generalsekretär der EU-Kommission, aus: Gestärkt worden seien durch das Votum des Volkes die EU-Demokratie als Ganzes.
«Zwei grosse Themen lösten die Repolitisierung in der Schweiz aus: die EU-Politik nach dem Kalten Krieg und die Gleichstellung der Geschlechter in Politik und Gesellschaft.»
Im Kontext der Europäischen Union ist das nicht zu unterschätzen. Denn der «demos», also die 427 Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürger, bestimmt nur bei den Parlamentswahlen die Zusammensetzung der EU-Behörden.
Kommission und Europäischer Rat dagegen werden von Mitgliedsstaaten resp. deren Regierungen erkoren. Da wirken organisierte Interessen verstärkt ein.
Beteiligungsraten zwischen Ritual und Konflikt
Dennoch, Euphorie ist nicht angezeigt! Denn die Wahlforschung weiss: Hohe Wahlbeteiligungen sind in aller Regel die Folge eines Rituals. Und steigende Teilnahmequoten verweisen ebenso häufig auf wachsende Konflikte.
Ein Blick auf die Resultate der verschiedenen EU-Mitgliedsländer belegt das: Hoch und weitgehend stabil sind die Wahlbeteiligung beispielsweise in Belgien, Luxemburg und Malta. Neu über das europäische Mittel angestiegen sind die Teilnahmewerte in Spanien, Polen, Rumänien, Ungarn, Deutschland, der Tschechischen Republik, Dänemark, Österreich und Frankreich.
Claude Longchamp zählt zu den erfahrensten und angesehensten Politikwissenschaftlern und -analysten der Schweiz.
Er war Gründer des Forschungsinstitutes gfs.bern, dessen Direktor er bis zu seiner Pensionierung war. Er ist nach wie vor Präsident des Verwaltungsrats. Longchamp analysierte und kommentierte während 30 Jahren Abstimmungen und Wahlen am Schweizer Fernsehen SRF.
Für swissinfo und dessen Demokratieplattform #DearDemocracy schreibt Longchamp jeden Monat eine Kolumne zu den Schweizer Wahlen 2019.
Mobilisiert haben da vor allem interne Konflikte: In Spanien spaltet die Katalonien-Frage die Nation. In Rumänien belastetet die Korruption die gewählte Regierung arg. Polen und Ungarn sind Mitgliedstaaten mit autokratisch herrschenden Regierungsparteien und marginalisierter Opposition.
Und in Österreich und Frankreich brodelten während des Wahlkampfs erhebliche Unruhen. Schliesslich Deutschland: Da ist ein überholtes System an Volksparteien massiv im Umbruch, gefordert von Grünen auf der linken und der AfD (Alternative für Deutschland) auf der rechtsnationalistischen Seite.
Was das Beispiel Schweiz lehrt
Für die Europäische Union sind steigende Teilnahmewerte bei Parlamentswahlen neu. Die Schweiz kennt das schon länger. Die diesbezügliche Wende war 1995.
Damals wurde der lange dauernde Niedergang der Wahlbeteiligung bei 42 Prozent gestoppt. Seither steigt sie langsam, aber kontinuierlich an. 2015, bei den letzten Eidgenössischen Wahlen, lag sie bei knapp 49 Prozent.
Zwei grosse Themen lösten die Repolitisierung in der Schweiz aus: die EU-Politik nach dem Kalten Krieg und die Gleichstellung der Geschlechter in Politik und Gesellschaft.
Der 1992 angestrebte EWR-Beitritt elektrisierte namentlich die Landbevölkerung. Das trieb die nationalkonservative, auf verschiedene Parteien verteilte Wählerschaft massenweise an die Urne und in die Reihen der SVP (siehe Parteien-Box).
(Auswahl)
SVP: Schweizerische Volkspartei (rechtskonservativ)
SP: Sozialdemokratische Partei (Links)
FDP.Die Liberalen: Freisinnig-Demokratische Partei (rechtsliberal)
CVP: Christlichdemokratische Volkspartei (Mitte/Rechts)
GPS: Grüne Partei (Links)
GLP: Grünliberale Partei (Mitte)
BDP: Bürgerlich-Demokratische Partei (Mitte)
Das Gegenstück dazu geschah 1993 mit der Nicht-Wahl von Christiane Brunner in Schweizerische Regierung, den Bundesrat. Der nachfolgende Protest liess besonders in den Städten die Frauen in grosser Zahl zu SP und Grünen stossen.
Was folgte, war nicht punktuell, sondern Teil ganzer Zyklen. Die SP gewann von 1995 bis 2003 dreimal in Serie bei Nationalratswahlen. Bei den Grünen und der SVP hielt der Trend sogar vier Male hintereinander an. Am Ende hatte die Schweiz ein neues Parteiensystem mit starken Polen und schwachem Zentrum.
Politologen sagen: Viele und gegensätzlich ausgerichtete Parteien lassen eine demokratische Regierungsweise so lange zu, als sich ein regierungsfähiges Zentrum findet.
Was das für die EU bedeutet
Was die Wahlen 2019 für die EU bedeuten, werden wir erst in der Retrospektive mit Sicherheit beurteilen können.
Bis dahin gilt: Die Zersplitterung des europäischen Parteiensystems ist so hoch wie nie zuvor. Christ- und Sozialdemokratie sind so geschwächt, dass sie auch gemeinsam keine Mehrheit mehr hinter sich wissen. Die Zahl relevanter Konflikte hat zugenommen. Auf Wirtschaftspolitik kann die EU-Sache nicht mehr reduziert werden.
Mit dem Brexit änderte sich der Konflikt in der EU. Jenseits von Markt- und Staat geht es spätestens seit 2016 um Pro oder Kontra EU.
Auf der einen Seite stehen die euroskeptischen Bevölkerungsteile. Populisten meist rechts, bisweilen auch links, stacheln sie an. In Italien, Ungarn und Polen sind sie in der nationalen Regierung unter sich.
In Grossbritannien und Frankreich verhinderte wohl nur das Majorz- oder Mehrheitswahlrecht bei nationalen Parlamentswahlen einen vergleichbaren Bruch.
Auf der anderen Seite ist der europäisch gesinnte Mainstream. Aufgeschreckt von extremen Nationalisten, die aus Brüssel in der EU-Wahl ein «Stalingrad» machen wollten, unterstützten sie Programme mit offenen Volkswirtschaften. Und indem sie mit gesellschaftsliberalen Bewegungen sympathisierten, stärkten sie liberale und grüne politische Kräfte.
Neue Wege sind gefragt
Stimmt diese Analyse, wird die EU in den kommenden fünf Jahren konfliktreicher sein. Zwar sind die pro-europäischen Kräfte im Vorteil, stellen sie doch zwei Drittel der 751 Parlamentsabgeordneten. In der EU-Kommission und im Europäischen Rat wird ihr Gewicht demnach noch höher ausfallen.
Doch wird die bisherige Art der Machtausübung in Frage gestellt. Deutschland und Frankreich gehen nicht mehr abgesprochen und einmütig in Verhandlungen. Die Wahlsieger bremsen die Wahlverlierer.
Sie reklamieren, zuerst über programmatische Herausforderungen wie Klima und Wachstum zu reden. Erst danach seien die zentralen Posten zu verteilen. Populisten wiederum bringen Themen wie Sparprogramme oder Flüchtlingsbewegungen aufs Tapet.
Mit den Rezepten aus der ersten 40 Jahren EU-Politik wird man keine weiteren fünf Jahre beikommen können.
«Europa ist pluralistischer geworden. Damit die Demokratie gestärkt wird, muss dies aber erst verarbeitet werden.»
Bilanz
Meine erste Bilanz lautet: Die Repolitisierung der EU hat 2019 hat die Wahlbeteiligung und die Konfliktlinien steigen lassen.
Europa ist pluralistischer geworden. Damit die Demokratie gestärkt wird, muss dies aber erst verarbeitet werden.
Man kann das auf zwei Arten leisten: mit einer erweiterten Koalition, welche die EU mit klaren Konturen regiert. Ohne feste Einbindung der Liberalen geht das nicht. Oder mit Themen-Allianzen, die flexibel weltanschauliche und nationale Eigenheiten pragmatisch, aber bewusster einbindet.
Die Schweiz hat sich für letzteres entschieden: grosse Koalition und wechselnde Mehrheiten. Schlecht gefahren ist sie damit nicht. Vielleicht mit Ausnahme des strategischen Handelns.
Das Schweizer Beispiel lehrt eines: In der Demokratie braucht es eine stärkere Ausrichtung der EU-Politik an den Interessen und Mentalitäten der Bürger und Bürgerinnen.
Diese sind auch in der EU erwacht. Teile von ihnen haben protestiert, andere schöpfen Hoffnungen. Um diese Dynamik einzubinden, muss die EU flexibler und vor allem bürgernäher werden.
Denn das ist die Hauptbotschaft des erwachten «demos» in der Europäischen Union.
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