Experten sind besorgt über Lage in Iran
Der oberste geistliche Führer des Iran, Ayatollah Ali Chamenei, lässt die Wahlergebnisse überprüfen. Ein Schweizer Experte bezeichnet diesen Auftrag als bedeutungslos. Derweil gab es laut staatlichen Medien Tote bei den Demonstrationen.
Die neusten Berichte sprechen von bis zu 15 Toten. Sie seien bei einem Schusswechsel nach der Massendemonstration am Montag ums Leben gekommen.
Zu der Grosskundgebung auf dem Asadi-Platz waren über hunderttausend Anhänger des unterlegenen Reformkandidaten Mir Hossein Mussawi gekommen.
Zusammen mit ihrem Kandidaten werfen sie Präsident Ahmadinedschad massiven Wahlbetrug vor. Die iranische Regierung hatte am Samstag erklärt, Mahmud Ahmadinedschad habe die Wahlen mit 63% der Stimmen gewonnen, vor seinem grössten Rivalen Mussawi, der 33% erhalten habe.
Die Regierung nutzte das Wochenende zu Aufrufen an die Bevölkerung, das Wahlresultat zu akzeptieren. Doch am Montag ordnete der oberste geistliche Führer Chamenei eine Überprüfung der Präsidentenwahl an. Angesichts der anhaltenden Proteste hat sich der Wächterrat bereit erklärt, einen Teil der Stimmen neu auszuzählen.
Dies, nachdem Mussawi und Moshen Rezai, ein weiterer unterlegener Kandidat, beim Wächterrat offiziell Protest eingelegt und den Antrag gestellt hatten, die Wahl wegen Unregelmässigkeiten für ungültig zu erklären. Nun sollen die Stimmen derjenigen Wahlurnen geprüft werden, die «Gegenstand von Einwänden» seien.
«Augenwischerei»
Doch Mohammad-Reza Dschalili, ein iranischer Experte am Hochschulinstitut für internationale Studien und Entwicklungspolitik (IHEID) in Genf, bezeichnet Chameneis Schachzug als Augenwischerei.
«Der einzig mögliche Rekursprozess läuft über den Wächterrat, dessen Mitglieder allesamt von Chamenei bestimmt worden sind», sagte er gegenüber swissinfo.ch.
«Der Wächterrat ist für die Wahlen verantwortlich und hat die vier Präsidentschaftskandidaten ausgewählt. Sie haben jetzt zehn Tage Zeit, herauszufinden, ob es zu Wahlbetrug gekommen ist oder nicht – das ist absolut lächerlich.»
«Massiver und beispielloser Betrug»
Alle drei Herausforderer des Präsidenten hatten grosse Zweifel am offiziellen Wahlresultat geäussert. Ahmadinedschad und Vertreter des Innenministeriums haben die Vorwürfe auf Wahlfälschung jedoch zurückgewiesen.
Der Präsident sprach von einer «freien und gesunden» Wahl und verglich die Proteste der letzten Tage mit den Emotionen, die Fussballfans nach einem Spiel zeigten.
Dschalili gab zu bedenken, Wahlen in Iran seien immer schon von Unregelmässigkeiten begleitet gewesen, doch diesmal sprächen diverse Begebenheiten für einen «massiven und beispiellosen Betrug».
«Da ist einmal die lächerlich hohe Anzahl Stimmen in Gebieten, in denen die Gegner eine starke Basis haben. Dann die Geschwindigkeit, mit der das Wahlresultat bekannt gegeben wurde. Zudem ist es offensichtlich, dass auf dem Land, wo die meisten für Ahmadinedschad stimmten, lediglich 30% der Bevölkerung leben», erklärte er.
Laut dem in Teheran geborenen Politikwissenschafter lässt sich das iranische System nicht mit den westlicher Demokratien vergleichen. «Es gibt keine Wählerlisten, man kann mit einer Geburtsurkunde wählen gehen, wo man will.»
Dies öffne Betrügereien Tür und Tor, weil verschiedene Kopien eines Zertifikats benutzt werden könnten – auch solche von Verstorbenen oder Vermissten.
«Kommt dazu, dass die Kandidaten keine offiziellen Vertreter bei den Wahlurnen oder im Innenministerium haben können, wo die Stimmen ausgezählt werden», so Dschalili.
«Die Leute gehen auf die Strasse, weil sie ein ‹Wunder› an den Wahlurnen vermuten: Sie wählten X, daraus wurde aber Y.»
Paradox
Andere Experten sehen die Situation ähnlich düster. Für Hasni Abidi, Direktor des Zentrums für arabische Studien und Forschung in Genf, zeigen die Wahlen in Iran das wahre Paradox im Land.
«Das Regime hat es geschafft, sich selber als offen, pluralistisch und demokratisch zu präsentieren, während es sich seit 1979 praktisch nicht verändert hat», erklärte er gegenüber swissinfo.ch.
«Religiöse Gruppen dominieren immer noch die Politik, und demokratische Instrumente können nur in einem fixen Rahmen benutzt werden – namentlich vom obersten religiösen Führer Chamenei, Teilen der Armee und den Revolutionsgarden.»
Dschalili befürchtet, die Regierung könnte hart gegen die Demonstrierenden vorzugehen. «Das iranische Regime ist ein sehr ausgeklügeltes und repressives Regime. Die Revolte wird weggeputzt, was langfristig sehr schwere Konsequenzen für das Regime haben wird», sagte er.
Simon Bradley, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub)
Die Schweiz vertritt wegen ihrer Neutralität seit Jahren die Interessen verschiedener Länder in Iran, so seit 1980 jene der USA in Iran und die iranischen Interessen in den USA.
Der Schweizer Bundespräsident Hans-Rudolf Merz traf Mahmud Ahmadinedschad am 19. April 2009 in Genf.
Ahmadinedschad hat wiederholt behauptet, der Holocaust habe nie stattgefunden. Zudem soll er für die Ausradierung Israels plädiert haben.
Nach dem Treffen Merz-Ahmadinedschad zog Israel kurzzeitig seinen Botschafter aus der Schweiz ab.
Die beiden Staatsoberhäupter hatten sich vor der UNO-Rassismuskonferenz in Genf getroffen, um bilaterale Verpflichtungen zu diskutieren.
An der Konferenz sorgte Ahmadinedschad mit einer kontroversen Rede für einen Eklat: viele Teilnehmer verliessen den Saal.
Iran ist einer der wichtigsten Handelpartner der Schweiz im Nahen Osten: Ein Handelsabkommen wurde 2005 unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert.
2007 lebten 183 Schweizerinnen und Schweizer in Iran.
Die Macht im Iran verteilt sich auf ein komplexes System von ernannten Geistlichen und gewählten Politikern. Der Wächterrat ist dabei eines der einflussreichsten Gremien.
Die Gruppe aus zwölf Experten für islamisches Recht kontrolliert die Zulassung der Kandidaten für Wahlen und bestätigt auch deren Ergebnis.
Zudem dient der Wächterrat als eine Art Verfassungsgericht und kann vom Parlament beschlossene Gesetze zurückweisen.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch