«Fehltritte bleiben in Erinnerung – nicht die Erfolge»
Als Finanzminister habe er seine Aufgaben sehr gut gemacht. Trotzdem seien es vor allem die Fehltritte in der Libyen- und in der UBS-Affäre, die von Bundesrat Hans-Rudolf Merz haften blieben, sagt der Politologe Georg Lutz im Gespräch mit swissinfo.ch.
Der Rücktritt von Hans-Rudolf Merz auf Anfang Oktober überrascht wohl niemanden. In der Geschichte der Schweizer Regierung hat es kaum je einen Bundesrat gegeben, der so viel Kritik hat einstecken müssen wie der 67-jährige Appenzeller.
Georg Lutz ist Projektleiter bei der Stiftung für die Forschung in den Sozialwissenschaften (Fors) an der Universität Lausanne.
swissinfo.ch: Der Rücktritt erfolgt auf Oktober dieses Jahres. Ist das eine Chance für seine Partei, die FDP?
Georg Lutz: Sie steht vor der Herausforderung, diesen Sitz zu retten. Da es keine Doppelvakanz gibt, kann die FDP die Nachfolge nicht mit anderen Parteien koordinieren, sondern muss für eine eigene Kandidatur Mehrheiten finden.
swissinfo.ch: Ist die FDP als Verliererin der letzten Eidgenössischen Wahlgänge punkto Nachfolgekandidatinnen und -kandidaten gut aufgestellt?
G.L.: Der Rücktritt von Hans-Rudolf Merz wird für die meisten Parteimitglieder kaum eine grosse Überraschung sein. Die Partei konnte sich darauf vorbereiten, einzelne Exponenten konnten sich eine allfällige Kandidatur überlegen. Deshalb gehe ich davon aus, dass die Partei punkto Kandidaten insgesamt gut aufgestellt ist.
Das heisst aber nicht, dass es einfach sein wird, für eine eigene Kandidatur in der Bundesversammlung eine Mehrheit zu finden.
swissinfo.ch: Moritz Leuenberger ist Hans-Rudolf Merz mit seinem Rücktritt sozusagen zuvorgekommen. Ist jetzt die Vermeidung der Doppelvakanz seitens der FDP die Retourkutsche dafür?
G.L.: Es ist immer schwierig zu sagen, welche Motive schlussendlich zum Rücktritt geführt haben. Insbesondere, ob persönliche und allenfalls strategische Motive dahinter stehen.
Fakt ist, dass die Nachfolgewahl für Hans-Rudolf Merz vor jener für Moritz Leuenberger erfolgen wird. Das bedeutet, dass in nächster Zeit die FDP im Zentrum der medialen Öffentlichkeit stehen wird. Dies ist eine Chance, welche die Partei nützen kann.
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swissinfo.ch: Auch wenn es jetzt im Dezember nicht zu einer Doppelwahl kommt, sind die Sitze von zwei erfahrenen Bundesräten zu besetzen. Besteht Gefahr für ein Vakuum in der Regierung? Oder überwiegen die Chance auf Erneuerung? Didier Burkhalter ist ja auch noch ein «junger» Bundesrat.
G.L.: Personelle Neuerungen bieten natürlich immer auch die Chance zu einem Neubeginn. Ich gehe davon aus, dass das im Bundesrat der Fall sein wird. In der Vergangenheit hatte man zumindest von aussen nicht den Eindruck, dass das Gremium harmonisch und reibungslos funktioniert, eher im Gegenteil. Neue Personen ergeben neue Möglichkeiten für bessere Abläufe in der Bundesratsarbeit.
swissinfo.ch: Welche politische Bilanz ziehen Sie über die Arbeit von Bundesrat Hans-Rudolf Merz?
G.L.: Seine Rolle als Finanzminister hat er sicherlich sehr gut gespielt, wie er auch in seiner Demissionsrede sagte. Seine Aufgabe ist es, darüber zu wachen, dass der Staatshaushalt im Lot bleibt. Das war in der Schweiz sehr wohl der Fall, gerade im internationalen Vergleich. Diesbezüglich hat er seine Hausaufgaben auf jeden Fall gemacht.
Was in der medialen Öffentlichkeit und im Bewusstsein der Menschen haften bleiben wird, sind jedoch die verschiedenen Anlässe, bei denen er sehr ungeschickt agiert und kommuniziert hat. So vor allem in der Libyen- und in der UBS-Affäre. Hier hat Hans-Rudolf Merz eine schlechte Figur gemacht. Tragischerweise gehört es zum Leben eines Politikers, dass man sich stärker an die Fehltritte erinnern wird als an die Erfolge, die Merz durchaus auch feiern konnte.
swissinfo.ch: Merz war vor seiner politischen Karriere langjähriger UBS-Berater Hatte er als Bundesrat in der UBS-Steueraffäre zu wenig Distanz zu den illegalen Praktiken und kriminellen Machenschaften, welche die UBS-Berater in den USA an den Tag legten?
G.L.: Man kann ihm nicht vorwerfen, dass er direkt involviert ist. Natürlich ist er eine Person, die in ihrer politischen, aber auch in ihrer beruflichen Karriere sehr eng mit dem Finanzplatz Schweiz verbandelt ist, und hier insbesondere mit der UBS.
In der UBS-Affäre war es offensichtlich, dass ihm manchmal die gesunde Distanz gefehlt hat, welche die Politik gerade auch zu Finanzinstitutionen haben sollte. Das liess den Eindruck entstehen, dass Herr Merz ein sehr guter Fürsprecher des Finanzplatzes war. Und das in einer Situation, in der die Politik etwas eigenständiger hätte reagieren sollen.
swissinfo.ch: Im Herbst 2008 hatte er einen Herzstillstand erlitten und sah sich bei seiner Rückkehr mit den beiden erwähnten, schweren Krisen konfrontiert. Laut Beobachtern war er seither «nicht mehr derselbe». Wäre das nicht ein günstiger Zeitpunkt für den Rücktritt gewesen?
G.L.: Im Nachhinein ist man immer schlauer. Tatsächlich kann man nachträglich sagen, Herr Merz hätte sich, seiner Partei und der Regierung einiges erspart, wenn er damals nicht mehr in den Bundesrat zurückgekehrt wäre.
Aber wir haben nun einmal in der Schweiz die Tradition, dass die Mitglieder des Bundesrates für vier Jahre gewählt sind. Es gibt also keine Möglichkeit, ein Regierungsmitglied während der Legislatur zu einem Rücktritt zu bewegen oder zwingen.
Deshalb steht es jedem einzelnen frei, diesen Entscheid zu treffen. In der Regel wird der Rücktrittsentscheid auch sehr einsam und alleine gefällt.
Renat Künzi, swissinfo.ch
Der Tessiner Politologe Oscar Mazzoleni hofft, dass durch die Wahl zweier neuer Mitglieder insbesondere die die Glaubwürdigkeit der Schweizer Regierung im Ausland erhöht wird.
Umgekehrt sieht er die im Vergleich zum Ausland ausserordentliche Stabilität der Schweiz durch die Wahl von zwei neuen Bundesräten nicht gefährdet.
«Was in der Schweiz dramatisch erscheint, ist es aus der Sicht des Auslands kaum», sagt der Tessiner mit Blick auf die letzten, turbulent verlaufenen Bundesratswahlen.
In der Einschätzung von Merz› Wirken stimmt der Politologe Michael Hermann von der Universität Zürich mit seinem Kollegen Georg Lutz überein.
«Merz wird als unglückliche Figur und Ritter der traurigen Gestalt in die Schweizer Geschichte eingehen», sagte Hermann zu swissinfo.ch.
Merz sei aber kein Versager, seine Finanzpolitik könne sich sehen lassen. Er habe aber unglücklich agiert, etwa indem er die UBS-Krise zu lange totgeschwiegen habe, «zum Teil auch aus ideologischer Grundüberzeugung» heraus.
Hermann geht davon aus, dass es weder bei der Nachfolge von Merz noch derjenigen von Moritz Leuenberger zu parteipolitischen Verschiebungen innerhalb des Bundesrats kommen werde.
Hans-Rudolf Merz ist Ende 2003 als Nachfolger von Kaspar Villiger für die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP.Die Liberalen) in den Bundesrat gewählt worden.
Von Villiger übernahm er das Eidgenössische Finanzdepartement.
Zuvor vertrat er im Ständerat den Kanton Appenzell-Ausserrhoden.
Merz hatte an der Hochschule St. Gallen Staatswissenschaften studiert und mit dem Doktortitel abgeschlossen.
Darauf zog er als Unternehmensberater in die weite Welt hinaus. Erst 1997 wandte er sich der Politik zu.
Merz wird am 10. November 2010 68-jährig. Er ist verheiratet und Vater von drei erwachsenen Söhnen.
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