Frauen und Männer driften politisch auseinander – auch in der Schweiz
![Ein Mann und eine Frau in Wahlkabinen](https://www.swissinfo.ch/content/wp-content/uploads/sites/13/2025/02/307715918_highres.jpg?ver=b450e2ac)
In der Schweiz tendieren Frauen und Männer dazu, sich politisch voneinander zu entfremden. Frauen rücken eher nach links, Männer nach rechts. Der Trend ist aber keineswegs nur in der Schweiz festzustellen.
Die politischen Ansichten von Männern und Frauen entfernen sich voneinander. Vor allem unter jungen Menschen driften die politischen Ansichten unter den Geschlechtern immer weiter auseinander. Dieser Trend ist weltweit in unterschiedlichem Ausmass zu beobachten.
Die jüngsten Präsidentschaftswahlen in den USA haben diese Polarisierung gerade unter den jungen Wählerinnen und Wählern sehr deutlich gemacht. Wie die britische Zeitung The GuardianExterner Link berichtete, stimmten 58% der Frauen zwischen 18 und 29 Jahren für Kamala Harris, während 56% der gleichaltrigen Männer Donald Trump unterstützten.
Diese Geschlechterdifferenz scheint ausserhalb der westlichen Hemisphäre noch stärker ausgeprägt zu sein, wie die britische Wirtschaftszeitung Financial TimesExterner Link kürzlich auf Grundlage von Daten aus mehreren Ländern dargelegt hat. «In Südkorea klafft mittlerweile eine grosse Lücke zwischen jungen Männern und jungen Frauen; in China ist die Situation ähnlich. In Tunesien findet sich das gleiche Muster», heisst es. Die Zeitung spricht davon, dass eine weltweite und alle Kontinente betreffende Kluft zwischen Männern und Frauen in Bezug auf die politischen Ansichten festzustellen sei – ein «global gender divide».
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Der Geschlechtergraben vertieft sich
Das Phänomen ist auf alle Fälle auch in der Schweiz zu beobachten. Bei nationalen Abstimmungen zeichnet sich immer häufiger eine deutliche Kluft zwischen den Geschlechtern ab. Bei den eidgenössischen Volksabstimmungen im November 2024 war der GeschlechtergrabenExterner Link besonders deutlich: Die Frauen lehnten alle vier Vorlagen ab, während die Männer diese annahmen.
Insbesondere stimmten die weiblichen Stimmberechtigten gegen den von der Regierung und vom Parlament vorgesehenen Autobahnausbau, der an der Urne am Ende scheiterte. Der Geschlechterunterschied wurde vom Institut gfs.bern in einer Analyse nach der Abstimmung auf 19 Prozentpunkte beziffert – eine der grössten Geschlechterdifferenzen, die je bei einer nationalen Abstimmung eruiert wurden. 57% der Männer stimmten der Vorlage zu, während sie bei nur 38% der Frauen Unterstützung fand.
Der grösste jemals beobachtete Unterschied zwischen den Geschlechtern, ganze 27 Prozentpunkte, trat 2022 bei der Abstimmung über die AHV-ReformExterner Link auf, wie in der folgenden Grafik zu sehen ist. Fast zwei Drittel der Männer unterstützten die Erhöhung des Rentenalters für Frauen auf 64 Jahre, während zwei Drittel der Frauen dagegen stimmten. In diesem Fall dominierte am Ende die Meinung der männlichen Stimmenden und die Reform (AHV21) wurde angenommen.
«Abstimmungen, bei denen es eine grosse Kluft zwischen dem Abstimmungsverhalten von Männern und Frauen gibt, sind gleichwohl die Ausnahme und nicht die Regel», betont die Politologin Martina Mousson.
Tatsächlich zeigte sich eine Geschlechterdifferenz bei weniger als 70 Vorlagen von insgesamt 410 Eidgenössischen Abstimmungen, über die seit Beginn der VOX-AnalysenExterner Link befunden wurde. Die Meinung der Frauen war häufiger ausschlaggebend für das Endresultat als diejenige der Männer: 16 Mal war das Votum der Frauen entscheidend, 11 Mal dasjenige der Männer. In drei Fällen scheiterte eine Vorlage am Ständemehr, so dass das Geschlecht keinen Einfluss auf das Ergebnis hatte. Die verfügbaren Daten erlauben es nicht, zwischen der Stimmabgabe der Schweizer:innen im Inland und Auslandschweizer:innen zu unterscheiden.
Dennoch: Der Geschlechtergraben ist seit 2020 viel häufiger zu beobachten. Und er ist auch tiefer geworden. Von den zehn eidgenössischen Abstimmungen mit der grössten Geschlechterdifferenz fanden sechs in den letzten vier Jahren statt.
Für Martina Mousson hat dies vor allem mit den Themen der Abstimmungsvorlagen zu tun: «Wir wissen, dass die weiblichen Wählerinnen bei bestimmten Inhalten, die in den Abstimmungen der letzten Jahre sehr präsent waren, anders abstimmen als die männlichen Wähler. Dies ist insbesondere bei Vorlagen im Zusammenhang mit ökologischen Anliegen der Fall.»
Laut der Politologin stimmen Frauen im Grundsatz häufiger zugunsten von Umweltschutz-Anliegen, aber auch für die Stärkung der Altersvorsorge, für Minderheiten oder vulnerable Personen, für Prävention im Gesundheitswesen und für den öffentlichen Dienst. Bei Vorlagen zur Armee zeigen sie sich eher kritischer. «Sie setzen sich auch für ihre eigenen Interessen ein, wenn sie vom Thema einer Vorlage direkt betroffen sind, wie etwa bei der Abstimmung über die Erhöhung des Frauen-Rentenalters», sagt Mousson.
Frauen wählen eher links
Die Kluft zwischen den Geschlechtern besteht nicht nur bei Abstimmungsvorlagen zu Sachfragen, sondern spiegelt sich auch im Wahlverhalten: Frauen wählen eher linke Parteien, Männer eher rechte Parteien.
Bei den eidgenössischen Wahlen geben Männer häufig den bürgerlichen Parteien ihre Stimme, während Frauen häufiger die rot-grünen Parteien wählen. Dies war bereits in den 1990er-Jahren der Fall, wie die folgende Grafik zeigt, die auf der Schweizer Wahlstudie SelectsExterner Link (seit 1995) der Universität Lausanne basiert und das Wahlverhalten dokumentiert.
Als das Frauenstimmrecht auf Bundesebene im Jahr 1971 eingeführt wurde, war es noch umgekehrt: Frauen standen auf der politischen Skala weiter rechts als Männer. Damals hiess es häufig, die Frauen stimmten «wie Pfarrer» ab. «Das Wahlverhalten drehte ab 1987 tendenziell ins Gegenteil», sagt die Politikwissenschaftlerin und Leiterin der Selects-Studie, Anke Tresch. Ab diesem Zeitpunkt hat sich die Geschlechterdifferenz von Wahl zu Wahl verschärft. Frauen wählten tendenziell immer häufiger links.
«Die Säkularisierung hat bei diesem Richtungswechsel eine Rolle gespielt. In den 1970er-Jahren waren die Frauen stärker an der Religion orientiert und in das Kirchenleben eingebunden», erklärt Anke Tresch. Auch die sich geänderte Stellung der Frau in der Gesellschaft spielte ihrer Meinung nach eine Rolle. «Frauen sind häufiger berufstätig und haben im Durchschnitt ein höheres Bildungsniveau als Männer», betont die Politologin.
Anke Tresch vertritt die Ansicht, dass sich Frauen auch durch Themen wie den Schutz von Frauen- und Minderheitenrechten eher zu linken Parteien hingezogen werden: «Frauen sind sehr sensibel für diese Themen.»
Der Gendergraben könnte sich in den nächsten Jahren noch vertiefen, da er jetzt schon bei der jungen Wählerschaft besonders ausgeprägt ist. Bei den letzten Eidgenössischen Wahlen war die Sozialdemokratische Partei (SP) die stärkste Partei unter den Frauen zwischen 18 und 24 Jahren, während die gleichaltrigen Männer laut einer Selects-StudieExterner Link eindeutig die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) bevorzugten. «Die Unterschiede werden innerhalb der jüngeren Generation immer grösser», kommentiert Anke Tresch.
Unterschiede gab es schon immer
Die politische Entfremdung zwischen Männern und Frauen beunruhigt die Expertinnen jedoch nicht, denn es gab immer schon Unterschiede zwischen bestimmten Bevölkerungsgruppen. «In der Vergangenheit gab es beispielsweise Konflikte in Folge von Religionszugehörigkeiten. Heute stehen die Unterschiede zwischen den Geschlechtern im Vordergrund», sagt Anke Tresch.
Sie weist jedoch darauf hin, dass laut diversen Studien junge Frauen bei der Wahl eines Partners zunehmend auch die politische Gesinnung als Kriterium berücksichtigen: «Wenn sich dieses Phänomen stark ausbreiten sollte, könnte dies potenziell Auswirkungen auf die Gesellschaft haben.»
![Passanten überqueren einen Fussgängerstreifen](https://www.swissinfo.ch/content/wp-content/uploads/sites/13/2025/01/template_dialog-2.png?ver=290fd4d9)
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Der Graben zwischen jungen Frauen und Männern wird tiefer
Martina Mousson gibt sich gleichwohl optimistisch: «Ich glaube nicht, dass Frauen und Männer aufhören werden, sich in der Politik und später auch im Alltag zu verstehen.»
Es gibt verschiedene Interpretationen
Unter den politischen Parteien bereitet die Kluft zwischen Männern und Frauen der Linken mehr Sorgen als der Rechten. «Ich glaube nicht, dass sich eine dauerhafte Geschlechterdifferenz gebildet hat», meint Johanna Gapany, Ständerätin der rechts-liberalen Freisinnigen (FDP). Sie ist der Ansicht, dass sich die Unterschiede vor allem bei spezifischen Themen bemerkbar machen.
Laut der grünen Nationalrätin Delphine Klopfenstein spiegelt die bei den Abstimmungen beobachtete Kluft zwischen den Geschlechtern unter anderem die Unterrepräsentation der Frauen in den Eidgenössischen Räten wider. «Da die Sichtweise der Frauen bei den Entscheidungen des Parlaments nicht genügend berücksichtigt werden, kommt deren Position in den Abstimmungen zum Ausdruck.»
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Editiert von Samuel Jaberg. Übertragung aus dem Französischen: Gerhard Lob
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