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Freude herrschte wirklich um 14.17 Uhr

Die nächste Herausforderung besteht darin, den Güterverkehr vermehrt von der Strasse auf die Schiene zu bringen. Keystone

Begeisterung in der Schweizer Presse am Samstag über den finalen Tunnel-Durchstich unter dem Gotthard, oft mit mehrseitigen Bildstrecken und Reportagen. Die Kommentare weisen auch auf die unvollendete europäische Nord-Süd-Vernetzung und Strasse-Schiene-Verlagerung hin.

Jubel bei den Mineuren, bei einigen Verantwortlichen sogar Tränen in den Augen. Und das will in der Schweiz etwas heissen. Das Ereignis ist am Samstag auf den Frontseiten der Deutschschweizer und Tessiner Presse leicht prominenter als in den Westschweizer Zeitungen gefeiert worden.

«Diesen Blick müssen Sie für Ihre Enkel aufbewahren!», schreibt das Boulevardblatt unten auf die Frontseite, und lässt gleich sechs Spezialseiten folgen.

«Wir Arbeiter bildeten hier all die Jahre hindurch eine kleine europäische Gemeinschaft. Und wir haben uns bestens vertragen», zitiert der Blick Verantwortliche aus der Bauleitung. Und laut den beiden Geistlichen, die die Durchbruchs-Messe lasen, «verehren selbst Muslime Barbara, die Schutzheilige der Mineure».

«Sissi schrieb Geschichte»…

…kommentiert die La Regione Ticino. Neben den echten Helden des Durchbruchs, den Mineuren, sollten an diesem Tag auch die beiden Persönlichkeiten gefeiert werden, die dieses immense Projekt durchgedrückt haben: Moritz Leuenberger und Adolf Ogi.

«Die Geschichte wird sich an sie erinnern. Sie hatten einen Traum, und sie haben ihn realisiert.» Und nichts könne ihre Emotionen besser zeigen als die Foto, auf der sie sich umarmen, und die überall zu sehen gewesen sei.

«Oft liest man, die Schweiz sei zu einer längerfristigen Perspektive nicht fähig. Sie reagiere immer nur auf äusseren Druck», schreibt der Corriere del Ticino, «die Verwirklichung des Tunnels zeigt aber das Gegenteil. Sie ist offenbar imstande, ihre Zukunft abzuschätzen und den gesellschaftlichen und ökologischen Veränderungen anzupassen – und das noch vor ihren Nachhbarn.»

«Erst ein Etappensieg»

«Ein Weltrekord – und doch erst ein Etappensieg», kommentiert der Tages-Anzeiger einen Tag nach dem epochalen Durchstich. Freude herrsche, weil es der Schweiz gelungen sei, «ein unrealistisches in ein realistisches Projekt umzuwandeln – ohne das wichtige wie richtige Konzept der Flachbahn durch die Alpen aufzugeben.»

Auch die Schweizer Finanzierung stosse im Ausland auf grosse Beachtung, so der Tagi. Die von der Finanzkrise durchgeschüttelten Nachbarländer wüssten kaum, woher sie das Geld für den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur nehmen sollten.

Deshalb habe das nachhaltige Finanzierungskonzept der Neat die Freude über den Durchstich noch erhöht. Die Schweiz sende damit ein wichtiges politisches Signal: Wir halten unsere Versprechen ein, wir setzen unsere Politik um.

Höflicher Beifall aus Europa

Dass die Neat vorerst ein verkehrspolitisches Stückwerk bleiben könnte, karikiert auch die Westschweizer Le Temps auf der Frontseite: Statt eines Kommentars zeigt eine Karikatur, wie die Geleise, die aus dem Neat-Tunnel führen, kurz danach an einem Geleisepuffer enden, auf dem das blaue Wappen mit den gelben Sternen prangt…

Auch Le Nouvelliste hakt hier ein: «Die Verspätung der neuen Bahnlinie im Zusammenhang mit den deutschen und italienischen Bahnetzen illustriert die Grenzen dieser Politik. Politisch isoliert, hat die Schweiz keine Mittel, die Mitarbeit ihrer Nachbarn zu erhalten.»

Le Temps findet es sehr schweizerisch, dass der effektive Durchbruch offenbar zehn Minuten früher als vorgesehen stattfand: «Sissi hätte ihre Zähne erst um 14.30 Uhr den Eingeladenen auf der Nordseite zeigen sollen.»

Was die physische Absenz der europäischen Verkehrsminister während dieses Durchstichs betrifft, zitiert Le Temps den EU-Botschafter in der Schweiz, Michael Reiterer. Er finde das kein Problem – habe aber ironisch beigefügt, sie hätten somit auch weniger CO2 produziert. Die Zeitung zitiert auch den ehemaligen Verkehrsminister Adolf Ogi, der die Absenz sehr bedauert habe. Zu seiner Zeit hätte man die Kollegen aus den Nachbarländern per Heli ins Gotthardmassiv geflogen.

Diesmal seien sie nur live zugeschaltet gewesen, schreibt die Neue Zürcher Zeitung, und hätten den Erfolg mit Applaus quittiert. «Nach Drehbuch und Regieanweisung» sei der Durchschlag erfolgt: «Nicht nur die bauliche Dimension setzt Masstäbe, sondern auch deren Inszenierung.»

Der NZZ-Korrespondent an Ort habe es nicht leicht gehabt, «Realität und Inszenierung auseinanderzuhalten».

«Grosser Tag der Mineure»…

….titelt die Aargauer Zeitung in ihrem Kommentar, und doppelt gleich nach: «Diese Arbeiter bringen Europa weiter als alle Verkehrsminister.» Wobei sie sich auf den eigenen Verkehrsminister bezieht: «Leuenberger wäre nicht Leuenberger, wenn er nicht auch darauf hingewiesen hätte, dass die Arbeiter aus ganz Europa kommen. (…) Sie bringen Europa weiter als die Minister der gleichen Länder, die in irgendeiner Hauptstadt zusammensitzen.»

Die AZ zitiert Leuenberger auch vor Ort, als er sich für die «warmen und herzlichen Worte» des EU-Verkehrsministers Siim Kallas bedankte: «Die EU-Minister haben von Leuenberger früher bereits ein Bahnticket für eine Fahrt ab 2017 durch den Basistunnel erhalten.»

Am Freitag hätte es für sie noch einen 2 kg schweren Gotthard-Granitblock gegeben, in den eine offizielle SBB-Uhr eingelagert ist.

Der Gotthard-Durchbruch ist auch in der europäischen Presse vom Samstag beachtet worden.

«Die Schweizer feiern ihren Basistunnel und fühlen sich doch von Europa verraten», schreibt die sueddeutsche.online, «kein Minister kommt zur Feier, und weil Italien seine Zusagen nicht hält, ist der verkehrstechnische Nutzen gering – ganz im Gegensatz zu den Kosten.»

Laut faz.net «setzen die Schweizer ein Zeichen in der europäischen Verkehrspolitik. Bei den Nachbarn Deutschland und Italien hakt es hingegen mit dem notwendigen Ausbau.»

Die italienische La Stampa schreibt, dass «am Gotthard die letzte Wand fällt» und berichtet auch von den acht Toten, wovon zwei Italiener waren. Italienische Politiker hätten erwähnt, wie wichtig es nun sei, dass auch auf italienischer Seite etwas unternommen würde.

Im französischen Figaro liest man, dass dieser Tunnel nicht genüge, denn die Verspätungen auf der europäischen Nord-Süd-Schienenachse liessen sich auch durch einen neuen Tunnel nicht wettmachen. Es bräuchte zum Beispiel eine einheitliche Signalisation, und der ständige Lokomotivenwechsel zwischen Nord und Süd sei zu umständlich.

Die Financial Times meint, «mit der Tunnellänge von 57 km reiht sich das Bauwerk in Grössenordnungen wie dem Ärmelkanal-Tunnel zwischen England und Frankreich an, oder dem neuen Lötschberg-Link in der Westschweiz».

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