Frischzellen-Kur für Schweizer Bildungsraum
Das Schweizer Bildungswesen soll vereinheitlicht werden, von der ersten Klasse bis zur Universität. Dabei müssten die Kantone etwas von ihrer Souveränität abgeben.
Eine Änderung der Bundesverfassung soll dies ermöglichen. Am 21. Mai stimmt das Schweizer Stimmvolk über die kaum umstrittene Vorlage ab.
Das Schweizer Bildungssystem ist heute von Kanton zu Kanton unterschiedlich geregelt. Historisch ist ein Nebeneinander verschiedenster Systeme gewachsen. Wer heute von einem Kanton in einen andern zieht, muss oft in ein völlig anderes Schulsystem mit einem anderen Lehrplan wechseln.
Über eine Vereinheitlichung dieses Systems wurde in der Schweiz bereits einmal abgestimmt. 1973 nahm das Stimmvolk diese zwar an, sie scheiterte damals jedoch knapp am Nein der Kantone, dem Ständemehr.
Mehr Koordination
Nun nehmen Bundesrat (Landesregierung) und Parlament mit dem Bildungsrahmenartikel einen neuen Anlauf. Durch die Änderung der bildungsrelevanten Artikel in der Bundesverfassung soll die Bildung in der Schweiz zukunfts- und konkurrenzfähiger werden.
Um im internationalen Wettbewerb besser zu bestehen, soll der ganze Bildungsraum Schweiz neu als eine Einheit, als ein überblickbares Gesamtsystem, verstanden werden.
Wichtigstes Ziel der neuen Revision ist die Pflicht zur Koordination und Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen im ganzen Bildungsbereich, von der Volks- bis zur Hochschule. Schuleintrittsalter, Dauer und Ziele der verschiedenen Bildungsstufen und die Anerkennung der Abschlüsse sollen landesweit harmonisiert werden.
Dies birgt jedoch auch gewissen Zündstoff: Falls die Kantone sich nicht einigen können oder die Harmonisierung nicht freiwillig umsetzen, soll der Bund in deren Hoheit eingreifen und gewisse Schritte verordnen können.
Klare Mehrheit dafür
Doch trotz diesem Machtverlust für die Kantone stösst die Änderung der Bildungsartikel, auch Bildungsverfassung genannt, bisher kaum auf Opposition.
In der parlamentarischen Schlussabstimmung sagte der Nationalrat mit 176:3 Stimmen Ja zum Bildungsrahmenartikel, der Ständerat mit 44:1 Stimmen. Auch die vier Regierungsparteien haben sich einhellig hinter die Revision gestellt, ebenso die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK).
Die Unterschiede in den Schulsystemen der Kantone seien heute sehr gross, betont die Zürcher Nationalrätin Kathy Riklin von der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) im Gespräch mit swissinfo.
«In den Inhalten, in der Klassenführung, im Schulbeginn. Und das versteht die Bevölkerung nicht.» Riklin ist Präsidentin der nationalrätlichen Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur, die sich intensiv mit der Revision befasst hat.
«Wir möchten jetzt wirklich einmal einen grossen Schritt vorwärts tun und diesen Bildungsraum, soweit das möglich ist, vereinheitlichen.»
Gegnerschaft an politischen Polen
Die Gegner der Bildungsverfassung finden sich nur ganz links und ganz rechts im politischen Spektrum. So engagiert sich der Walliser Lehrer und Nationalrat Oskar Freysinger von der Schweizerischen Volkspartei (SVP) in einem Komitee gegen den Bildungsrahmenartikel.
«Er stellt einen unakzeptablen Angriff auf den Föderalismus dar», betont er im Gespräch. Die Möglichkeit eines Eingriffs durch den Bund setze den Föderalismus ganz klar ausser Kraft. «Denn normalerweise, und das war bisher immer der Fall, waren die Kantone für die Ausbildung zuständig.»
Aus etwas anderen Gründen ist auch der Waadtländer Nationalrat Josef Zisyadis von der Partei der Arbeit (PdA) dagegen. Zwar ist er auch für eine Harmonisierung des Schulsystems, befürchtet jedoch, dass dem Volk die Kontrolle entzogen wird.
«Das ist ein absolut antidemokratisches System, das zu einer totalen Zentralisierung ohne Kontrolle durch Volk und Parlament führt», sagt er gegenüber swissinfo. Wenn man den Kantonen die Hoheit entziehe, «dann übernehmen die Funktionäre in Zukunft das Schulsystem».
Volks- und Ständemehr ausschlaggebend
Weil es sich bei der Neuordnung der Bildungsartikel um eine Verfassungsänderung handelt, kommt die Vorlage automatisch an die Urne, und es sind am 21. Mai 2006 das Volks- und das Ständemehr ausschlaggebend.
Bei einer Annahme würde die Neuordnung der Verfassungsbestimmungen zur Bildung sofort in Kraft treten.
swissinfo, Christian Raaflaub
In der föderalistischen Schweiz unterstehen die öffentlichen Schulen der Hoheit der jeweiligen Kantone.
Die Grundsätze des Schulsystems sind in der Verfassung verankert. Bei Verfassungsänderungen bedarf es einer Zustimmung von Volk und Kantonen.
Alle Versuche einer Harmonisierung der 26 unterschiedlichen Schulsysteme scheiterten bisher am Widerstand der Kantone (Ständemehr).
Einige Beispiele der Harmonisierung im Abstimmungs-Projekt vom 21. Mai 2006:
Kindergarten im ganzen Land
Gleiches Schuleintritts-Alter
Gleiche Dauer der obligatorischen Schulzeit (11 Jahre)
Gegenseitige Anerkennung von Diplomen zwischen Universitäten
Entwicklung von Bildungs-Standards
Koordination der Arbeit von universitären Forschungs-Instituten
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
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