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Für einen EU-Beitritt «Light»

Der Politologe René Schwok. (Bild: RDB) RDB

Das klare Schweizer Ja zur Ausdehnung des freien Personenverkehrs auf die neuen EU-Länder hat viele überrascht, doch nicht den Politologen René Schwok.

Der Forscher und Dozent am Europäischen Institut der Universität Genf vermutet, dass sich in Sachen EU in den nächsten zehn Jahren nichts ändern wird.

swissinfo: René Schwok, stärkt die Abstimmung vom Sonntag die Diplomatie der Schweiz?

René Schwok: Es ist sicher ein Erfolg für die Landesregierung. Das Resultat wird sie im bilateralen Weg bestärken – aber auch nicht mehr.

Ich denke, das Ja ist praktisch ein Nicht-Ereignis, während ein Nein klar eine Schwächung der Diplomatie hervorgerufen und eine Krise mit der Europäischen Union (EU) provoziert hätte.

swissinfo: Nach dem Ja zu Schengen/Dublin im Juni ist es immerhin bereits das zweite Mal, dass das Stimmvolk die Europa-Gegner der Schweizerischen Volkspartei (SVP) desavouiert hat.

R.S.: Ja, aber der Fehlschlag für die Gegner ist weniger gross als im Juni. Denn es war Christoph Blocher, Sprachrohr der SVP und Mitglied des Bundesrats, der mit seinem Appell für ein Ja die rechte Ecke torpediert hatte.

Bei Schengen/Dublin war es eine echte Kränkung, hatte doch die SVP alle Mittel für den Kampf gegen die Abkommen eingesetzt, inklusive Christoph Blocher und einem grossen finanziellen Aufwand.

swissinfo: Erlaubt der Bilateralismus, alles zwischen der Schweiz und der EU zu regeln?

R.S.: Er regelt nicht alles und ist sehr kompliziert. Die Liste der auszuhandelnden Themen ist noch lang. Doch die Schweiz hat sich für diesen Weg entschieden, weil sie nicht reif für einen Beitritt zur EU ist. Ich sehe daher für die nächsten zehn Jahre keine andere Lösung.

Dieser dritte Weg hat den Vorteil, eine Ausgrenzung zu vermeiden. Doch er hat auch den Nachteil, die Schweiz teilweise in einen Satelliten der EU zu verwandeln.

Alle Parteien sind gegen einen Beitritt, mit Ausnahme vielleicht der Sozialdemokraten, mit einigen Nuancen. Die Wirtschaftskreise sind dagegen. Auch unter den Kantonen gibt es keine Mehrheit für einen Beitritt.

Kurz gesagt sind fast alle dagegen, und wir sollten daher auf dem gewählten Weg weitergehen. Im Übrigen haben wir mit den Bilateralen bereits die wichtigsten wirtschaftlichen Vorteile erhalten.

swissinfo: Seit der Abstimmung fordern die EU-Gegner den Rückzug des Beitrittsgesuchs in Brüssel. Welches sind die Optionen?

R.S.: Die SVP profitiert von dieser Debatte, um zu einem Armdrücken aufzufordern und damit ihre Stärke zu demonstrieren. Doch es ist eine falsche Debatte!

Denn es ist das Schweizer Volk, dass durch die Ablehnung sowohl eines Rückzugs wie auch einer Reaktivierung des Gesuches die Situation praktisch eingefroren hat.

Aussenministerin Micheline Calmy-Rey hat übrigens darauf hingewiesen, dass die Schweiz ein Assoziierungsgesuch bereits 1963 deponiert hat, und dass alle Welt vergessen hat, dass dieses nie zurückgezogen wurde! Im Ernst, für Brüssel hat das keine Bedeutung.

swissinfo: Sie selber sind für einen Beitritt «Light». Was verstehen Sie darunter?

R.S.: Ein Beitritt, welcher der Opposition und den Ängsten der Schweizer Bevölkerung Rechnung trägt, mit Ausnahmen wie sie einige EU-Mitglieder auch kennen. Zum Beispiel könnte die Schweiz wie Schweden eine Ausnahme erhalten, den Euro nicht als Währung einführen zu müssen.

Sie könnte auch versuchen, materielle Garantien betreffend Verteidigung und Neutralität zu erhalten. Wie Malta und Zypern, die bei der Verteidigung der EU nicht mitmachen.

Oder sie könnte, wie Grossbritannien, eine reduzierte Mehrwertsteuer erwirken. Ausserdem gibt es da noch das Bankgeheimnis. Die Liste ist lang, doch dieser Beitritt mit Ausnahmen müsste sehr gut ausgehandelt werden, um alle Gesellschaftsschichten zu beruhigen.

Der Bundesrat hat einen Bericht auf Ende der Legislatur im Jahr 2007 angekündigt. Vielleicht kommt er mit phantasievolleren Vorschlägen?

swissinfo: 1992 hat sich das Schweizer Stimmvolk gegen einen Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) ausgesprochen. Eine Mehrheit von Deutschschweizern gegen eine Minderheit von Romands. Am 25. September 2005 war praktisch kein Unterschied mehr festzustellen. Was ist geschehen?

R.S.: Wir sind heute nicht sehr weit davon entfernt, was der EWR wollte, sind aber auf einem anderen Weg dahin gekommen. Doch was die Positionen der einen oder der andern angeht, würde ich sagen, wurden alle etwas ‹entzaubert›.

Die Romands sind auf die Erde zurück gefallen und wurden etwas weniger europafreundlich. Und die Deutschschweizer verteufeln die EU nicht mehr so stark wie früher.

Kurz gesagt, es sind alle Schweizer geworden. Ausser den Tessinern, die mit dem Bauch abgestimmt haben!

swissinfo-Interview: Isabelle Eichenberger
(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

Resultat der Abstimmung:
1’457’807 Ja-Stimmen (56%)
1’146’784 Nein-Stimmen (44%)
16 Kantone und 3 Halbkantone haben die Vorlage angenommen, 4 Kantone und 3 Halbkantone haben sie abgelehnt.
Stimmbeteiligung: 54%

Die Schweiz hat den bilateralen Weg mit der EU gewählt, weil sie nicht ausgegrenzt werden will, und weil das Volk keinen Beitritt zur EU wünscht.

Nach den bilateralen Verträgen I und II müssen weitere Themen ausgehandelt werden: Elektrizität, Galileo, Erasmus, das «Cassis de Dijon»-Prinzip, Terrorismus, Europol, europäischer Haftbefehl, politische Kooperation mit der EU usw.

Niemand hat bisher von Bilateralen III gesprochen. Es ist nicht sicher, ob die EU der 25 Mitglieder Gespräche mit der Schweiz aufnehmen will.

Der Bundesrat sollte in einem Monat entscheiden, wie es weitergehen soll und ob er das EU-Beitrittsgesuch zurückziehen will oder nicht.

Auf Ende der Legislatur im Jahr 2007 hat er einen Bericht zur Europapolitik angekündigt.

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