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Gaddafi spannt die Schweiz weiter auf die Folter

Hält die Schweizer Politik in Atem: der libysche Staatschef Muammar Gaddafi. Reuters

Die beiden in Tripolis festgehaltenen Schweizer haben ein Ausreise-Visum erhalten. Für die Ausreise brauchen sie noch die Zustimmung der libyschen Justizbehörde. In der Schweiz kritisieren Rechtsexperten den Vertrag zwischen der Schweiz und Libyen.

Der Bundesrat habe an seiner Sitzung vom Mittwoch davon Kenntnis genommen, dass das Aussendepartement den Vertrag als «für die Schweiz verpflichtend» betrachte.

Zudem habe die Regierung beschlossen, nun «die Umsetzungsphase einzuleiten», sagt Bundesratssprecher André Simonazzi vor den Medien in Bern.

Auf hartnäckiges Nachfragen, was denn die Umsetzungsphase konkret bedeute, antwortet Simonazzi: «Wir werden sicher zu einem späteren Zeitpunkt, wenn die Beiden wieder in der Schweiz sind, ausführlicher kommunizieren.»

Laut dem Eidgenössischen Finanzdepartement hat der libysche Premierminister Bundespräsident Hans-Rudolf Merz am Mittwochmorgen schriftlich mitgeteilt, dass es sich beim Abschluss der in Libyen erforderlichen administrativen Verfahren nur um eine Frage der Zeit handle.

Seit Dienstagnachmittag steht ein Bundesratsjet auf dem Militärflughafen von Tripolis. Er soll die beiden seit einem Jahr in Tripolis festgehaltenen Schweizer in die Schweiz zurückfliegen.

Die Schweiz steht in der Pflicht

Am vergangenen Donnerstag hatte Merz in Tripolis einen Vertrag mit Libyen unterzeichnet. Seither steht Merz in der Kritik der Politik, der Rechtsexperten und der Medien. Merz hätte den Vertrag nicht unterzeichnen dürfen, ohne die zwei Geiseln nach Hause zu bringen und der eigenmächtig unterschriebene Vertrag sei innenpolitisch nicht umzusetzen, so der Tenor der Kritik.

Der Bundesrat ist nach seiner ersten Sitzung nach der umstrittenen Reise seines Präsidenten zum Schluss gekommen, dass der Vertrag völkerrechtlich verbindlich sei. Demnach müssen die Schweiz und Libyen ein internationales Schiedsgericht einsetzen, das die Umstände der Verhaftung von Gaddafis Sohn Hannibal und dessen Ehefrau am 15. Juli 2008 durch die Genfer Polizei untersuchen soll.

Enormer Zeitdruck

Für die Ernennung dieses Gerichts stünden die Schweiz und Libyen unter «erheblichem Zeitdruck», schreibt der Zürcher Experte für Schiedsgerichtsbarkeit, Hansjörg Stutzer, in der Neuen Zürcher Zeitung. Die beiden Schiedsrichter dürfen weder die libysche noch die schweizerische Staatsbürgerschaft haben. Zusammen müssen sie einen Obmann ernennen.

Dieser müsse – wie auch die beiden anderen Richter – «über sehr viel Geschick verfügen, um das brisante Verfahren auf konziliante, aber dennoch verbindliche Art zu leiten» und sich «durch grosse Robustheit auszeichnen».

In der Tat ist der Zeitrahmen mit Blick auf die Anforderungsprofile sehr eng: Zehn Tage nach Unterzeichnung des Vertrags, also bis am 30. August, müssen die beiden Schiedsrichter ernannt sein. Diesen bleibt anschliessend Zeit bis am 21. September, um den dritten Schiedsrichter, also den Obmann zu ernennen, wie Stutzer schreibt.

Gewaltentrennung verletzt

Unabhängig von der Rückkehr der beiden Geiseln, ist also die Affäre für die Schweiz noch lange nicht beendet. Der Kanton Genf wehrt sich dagegen, dass sich Merz in Tripolis entschuldigt und so faktisch der Genfer Polizei ein Fehlverhalten attestiert.

Strafrechtler sehen in dieser Entschuldigung eine Verletzung der Gewaltentrennung und des Föderalismus, kommen aber zum Schluss, dass der Vertrag zwar gegen schweizerisches Recht verstosse, völkerrechtlich hingegen verbindlich sei. «Die Tatsache, dass der Bundespräsident den Vertrag im Namen der Schweiz unterzeichnet hat, macht ihn für Libyen verbindlich. Das Land kann sich verbindlich darauf berufen», urteilt der emeritierte Strafrechtsprofessor Thomas Fleiner.

Als «halsbrecherische Konstruktion» bezeichnet der Staatsrechtler René Rhinow den Vertrag. Der Bundespräsident habe «eindeutig seine Kompetenzen überschritten», so der Parteikollege von Merz.

Zielkonflikt zwischen Politik und Recht

Das Urteil des Schiedsgerichtes werde zwar für die Schweiz – auch wenn es zum Schluss kommt, dass sich die Genfer Polizei nicht korrekt verhalten habe – einen völkerrechtlich verbindlichen Charakter haben, so Fleiner, nicht aber für den Kanton Genf: «Genf ist aus Sicht des Schweizer Rechts nicht an den Vertrag gebunden. Der Kanton kann sich also weigern, der Eidgenossenschaft Rechenschaft abzulegen. In letzter Instanz wird das Bundesgericht entscheiden müssen.»

Grundsätzlich habe Bundespräsident Merz mit der Vertrags-Unterzeichnung Schweizer Recht verletzt, so Fleiner: «Er hat das damit begründet, er habe politisch keine andere Wahl gehabt. Für mich handelt es sich um einen Konflikt zwischen der Politik und dem Recht.»

Andreas Keiser, swissinfo.ch

15. Juli 2008: Hannibal Gaddafi, ein Sohn des libyschen Staatschefs, und seine schwangere Frau werden in Genf festgenommen. Sie sollen zwei ihrer Hausangestellten geschlagen haben. Zwei Tage später werden sie gegen Kaution von einer halben Million Franken aus der Polizeihaft entlassen.

19. Juli 2008: In Libyen werden zwei Schweizer festgenommen, darunter ein Mitarbeiter des Industriekonzerns ABB – dies wegen angeblicher Verstösse gegen Einwanderungs- und andere Gesetze. Die ABB und andere Unternehmen müssen ihre Büros schliessen.

26. Juli 2008: Libyen verlangt eine Entschuldigung der Schweiz für die Festnahme und eine Einstellung des Verfahrens gegen den Gaddafi-Sohn und dessen Frau. Die Schweiz lehnt dies ab.

3. September 2008: Der Genfer Staatsanwalt Daniel Zappelli stellt das Verfahren gegen die Gaddafis ein, nachdem die beiden Bediensteten nach Erhalt einer Entschädigung ihre Anzeige gegen ihre ehemaligen Arbeitgeber zurück gezogen haben.

Ende Dezember 2008: In einem Untersuchungsbericht zur Affäre Gaddafi stellt der Schweizer Rechtsprofessor Lucius Caflisch fest, die Genfer Polizei habe nicht unrechtmässig, aber unangemessen gehandelt.

29. Januar 2009: Am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos trifft Bundesrätin Calmy-Rey den Gaddafi-Sohn Saif al-Islam Gaddafi.

8. April 2009: Libyen und das Ehepaar Gaddafi reichen in Genf eine Zivilklage gegen den Kanton Genf ein. Sie verlangen Schadenersatz von rund einer halben Million Franken und Genugtuung für die aus ihrer Sicht unverhältnismässige Verhaftung.

29./30. Mai 2009: Bundesrätin Calmy-Rey besucht die zwei in Libyen festgehaltenen Schweizer. Sie spricht auch mit libyschen Regierungsvertretern.

20. August 2009: Bundespräsident Hans-Rudolf Merz unterzeichnet in Tripolis einen umstrittenen Vertrag, der die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und Libyen wiederherstellen soll, und entschuldigt sich bei Gaddafi.

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