Gastgewerbe: Osteuropa in den Startlöchern
Wird das Schweizer Gastgewerbe umgekrempelt, wenn ab 1. Mai die erweiterte Personenfreizügigkeit auch für Staatsangehörige aus weiteren 8 EU-Ländern, wie Polen, Tschechien, Ungarn oder Lettland, gilt? swissinfo.ch nimmt einen Augenschein am Fuss des Matterhorns.
Die Bahnhofstrasse, eine internationale Schnellimbisskette, Uhren- und Schmuckläden, Sportgeschäfte, Souvenirshops und urchige Restaurants. Mit leisem Summen rollen Elektrotaxis und –lastwagen durch die Strassen von Zermatt. Kein Verbrennungsmotor verpestet die saubere Bergluft.
Es flanieren Amerikaner, Deutsche, Chinesen, Inder. Auch unterwegs: Ihre Ski geschulterte, in klobigen Schuhen schwerfällig schlurfende Sportler, die den Tag 1500 Meter über dem Nobelferienort verbracht haben.
Das Bild prägen auch zahlreiche Gruppen junger, munter auf Portugiesisch drauflos schwatzender Menschen. Können sich so viele Portugiesen Urlaub im teuren Feriendorf leisten, obwohl ihr Land vor einer Staatspleite steht?
Der Schein trügt. Es handelt sich hier um die Söhne und Töchter der zahlreichen Zimmermädchen, Putzleute und Küchenhilfen aus Portugal. Viele Portugiesen arbeiten schon seit vielen Jahren als vor allem ungelernte Arbeitskräfte in Zermatt. Und sie haben oft auch ihre Familien in die Schweiz mitgebracht.
Viele Ausländer
Während der Hochsaison besitzt mehr als die Hälfte der Zermatter Wohnbevölkerung einen ausländischen Pass – die Touristen nicht mitgezählt.
Rund 80% der angemeldeten Ausländer im Walliser Ferienort stammen aus Portugal. Das zweitgrösste Kontingent stellen Deutsche. Wird sich das ändern, wenn vom 1. Mai an die erweiterte Personenfreizügigkeit für die EU-8-Länder Polen, Ungarn, Slowakei, Tschechien, Lettland, Litauen, Slowenien und Estland gilt?
«Meine Kolleginnen aus Deutschland arbeiten vorwiegend im Service und in den Restaurant- und Hotelküchen. Sie haben eine abgeschlossene Berufslehre», erklärt die 26-jährige Schweizerin Nathalie. Sie leitet die Bar in einem bekannten Hotel.
Viele Ausländer aus anderen Ländern führten dagegen Arbeiten aus, die Schweizer gar nicht mehr machen würden. «Welcher Schweizer würde wohl gerne den ganzen Tag Pfannen und Geschirr waschen, oder zehn Stunden Staub saugen, Silber putzen? Das ist für unsere Landsleute gar nicht mehr vorstellbar», so Nathalie.
Geringerer Verdienst
Bisher konnten Arbeitswillige aus den EU-8-Ländern nur in der Schweiz arbeiten, wenn die ausgeschriebene Stelle nicht von einem Schweizer oder einer Schweizerin besetzt werden konnte. Das fällt jetzt weg.
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Mauro Moretto, Verantwortlicher Gastgewerbe bei der Gewerkschaft Unia, sieht keine grosse Gefahr für den Gastro-Arbeitsmarkt: «Man muss die Situation wegen möglichem Lohndumping genau im Auge behalten und verstärkte Kontrollen machen. Aber der Markt wurde letztes Mal auch nicht auf den Kopf gestellt.» Er bezieht sich dabei auf das Jahr 2006, als das Freizügigkeitsabkommen auf die zehn im Jahr 2004 in die Europäische Union aufgenommenen Länder ausgedehnt wurde.
«Die Ausländer verdienen weniger als die Schweizer», sagt Nathalie. «Aber sie verdienen mehr als in ihren Heimatländern.» Renate, die 24-jährige Deutsche, die im selben Hotel wie Nathalie als Chef de Rang im Service arbeitet, sagt: «Ich bin ganz normal nach den Richtlinien des Gesamtarbeitsvertrags angestellt. Man kann schon sagen, Schweizer verdienen mehr, aber ich bin der Meinung, man muss aushandeln was man unterschreibt. Und damit muss man dann auch zufrieden sein.»
Druck auf Deutsche?
«Wir erwarten, dass sich nach dem 1. Mai viel mehr Arbeitssuchende aus Osteuropa bei uns melden werden. Da Menschen aus diesen Ländern meist über gute Deutschkenntnisse verfügen, denken wir, dass die Zahlen von Deutschen oder Österreichern zurückgehen werden», heisst es bei der Fremdenkontrolle der Gemeinde Zermatt.
«Die Gefahr besteht schon», räumt Renate ein. «Aber ich mache mir keine grossen Sorgen. Wir haben nach wie vor den Sprachvorteil. Zudem sind wir ausgebildete Berufsleute. Bis die Leute aus den EU-8-Staaten für uns zur ernsthaften Konkurrenz werden, denke ich, dauert es noch ein Weilchen.»
Osteuropa in den Startlöchern
Eine gewisse Konkurrenz aus Osteuropa könnte dagegen schon aufkommen, wie das Beispiel der 26-jährigen Oksana aus Litauen zeigt. Sie fragt mit ihrem sympathischen osteuropäischen Akzent nach Kaffee oder Tee und bringt das Verlangte an den Frühstückstisch.
Oksana hat Französisch und Englisch studiert, spricht auch Italienisch und ziemlich gut Deutsch. Lange hat sie auf eine Arbeitsbewilligung in der Schweiz gewartet. Es war nicht einfach für sie, die Stelle als Servierhilfe im Hotel zu bekommen.
Sie kennt in Zermatt keine weiteren Landsleute, ist jedoch überzeugt, dass mehr Menschen aus ihrem Land ihr Glück in der Schweiz versuchen werden, wenn die erweiterte Personenfreizügigkeit ab 1. Mai in Kraft tritt. Denn zu Hause sei die wirtschaftliche Situation absolut desolat.
«Es gefällt mir sehr in der Schweiz und ich würde gerne hier bleiben, aber nicht als Serviceangestellte. Ich möchte einen Job haben, an dem ich meine Sprachkenntnisse gewinnbringender einsetzen kann», beschreibt Oksana ihre Wunschzukunft in der Schweiz.
7325 Personen lebten am 11. Februar 2011, mitten in der Hochsaison, im Dorf Zermatt (ohne Touristen).
3721 davon waren Schweizer Staatsangehörige. Die 3604 ausländischen Personen stammten aus 56 Ländern.
Ende Saison, in der Woche nach Ostern, ist die Zahl der Ausländer auf 2794 zurückgegangen. Grund: Viele Hotel- und Gastronomie-Betriebe haben Saisonende und schliessen für ein paar Wochen.
Das Protokoll I zur Ausdehnung des Freizügigkeitsabkommens um die zehn 2004 beigetretenen EU-Staaten ist am 1. April 2006 in Kraft getreten. Ab 1. Mai 2011 gilt dies auch gegenüber den Staatsangehörigen aus Polen, Ungarn, Tschechien, Slowenien, Slowakei, Estland, Litauen und Lettland (EU-8). arbeitsmarktliche Beschränkungen, wie separate Kontingente, Inländervorrang und Kontrolle der Lohn- und Arbeitsbedingungen sind abgeschafft.
Für Staatsangehörige aus Zypern und Malta gilt seit dem 1. Juni 2007 die volle Personenfreizügigkeit.
Der freie Personenverkehr umfasst das Recht, in die Schweiz oder einen Mitgliedstaat der Europäischen Union einzureisen, sich dort aufzuhalten, eine Beschäftigung zu suchen, sich als Selbständig-Erwerbender niederzulassen und nach der Ausübung einer Erwerbstätigkeit auch dort zu bleiben
Nicht erwerbstätige Personen wie Rentner oder Studenten haben auch einen Anspruch auf Einreise und Aufenthalt, wenn sie über genügend finanzielle Mittel und eine Krankenversicherung verfügen.
Bei der Anwendung der Bestimmungen über den freien Personenverkehr ist jede Diskriminierung im Zusammenhang mit der Staatsangehörigkeit untersagt.
Die aus dem Abkommen Berechtigten haben Anspruch auf gleiche Lebens- , Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen wie die Inländer. Sie dürfen von ihren Familien begleitet werden.
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