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Gazakrieg: Eklat in der Schweizer Sozialdemokratie

SP-Ständerat Carlo Sommaruga bei Studierenden der Uni Lausanne, die wegen des Gazakriegs zum Boykott Israels aufrufen.
Folgen des Gazakriegs: SP-Ständerat Carlo Sommaruga bei Studierenden der Uni Lausanne, die zum Boykott Israels aufrufen. Keystone / Jean-Christophe Bott

Die Auslandschweizer:innen in Israel lösen ihre SP-Partei-Antenne auf, aus Protest. Es geht um die Positionierung eines SP-Exponenten im Gazakrieg. Aber auch um einen langjährigen Streit im Auslandschweizer-Milieu.

Carlo Sommaruga und Erich Bloch: Zwei SP-Parteigenossen, beide im Auslandschweizerrat, in Fragen um Gaza und Israel ebenso bewandert wie eindeutig positioniert. Es gibt starke Gemeinsamkeiten – und etwas, das trennt.

Erich Bloch, Sozialdemokrat in Israel nimmt Stellung zum Gazakrieg.
Erich Bloch, Sozialdemokrat in Israel. zvg

Dass die beiden sich nie besonders nahe standen, ist kein Geheimnis. Sie hatten sich aber miteinander arrangiert, grüssten sich hier und neckten sich dort, bis der Gazakrieg eskalierte. Die Palästina-Frage war die Sollbruchstelle.

Jetzt ist der Bruch da. Er zieht sich durch die Partei, die SP International – und er zieht Kreise hinein in den Auslandschweizerrat.

Kämpfe im Auslandschweizerrat

Erich Bloch ist Sozialdemokrat. Der schweizerisch-israelische Doppelbürger lebt in Israel. Jahrzehntelang engagiert er sich als Auslandschweizer für die Anliegen der SP Schweiz ebenso leidenschaftlich wie für die Sache Israels.

Auch Carlo Sommaruga ist Sozialdemokrat. Der Anwalt aus Genf vertritt seinen Kanton im Ständerat. Während Jahrzehnten setzt er sich ebenso leidenschaftlich ein – für die Sache Palästinas.

Vorstösse für Israel

Bloch und Sommaruga begegneten sich oft im Auslandschweizerrat, dem «Parlament» der Schweizer Diaspora. Sommaruga sitzt dort im Vorstand; Bloch war bis 2023 18 Jahre lang Delegierter für Israel.

Zweimal jährlich tagt der Rat in der Schweiz. Oft brachte Bloch dabei Vorstösse ein, die Israel oder den Umgang der Schweiz mit Juden und Jüdinnen betrafen.

Sommaruga: «Ich bin kein Antisemit»

Beide Männer waren bis zum Gazakrieg auch überzeugte Anhänger einer Zweistaatenlösung. Zeitweise haben sie fast zusammengefunden: Als Sommaruga einmal in Israel war, rief er Bloch an, der ihm das Land hatte zeigen wollen. Sommaruga aber beharrte auf Ostjerusalem als Treffpunkt – den palästinensisch beanspruchten Stadtteil. Das Treffen kam nicht zustande, auch nachdem Sommaruga als Alternative den Flughafen als Treffpunkt vorgeschlagen hatte.**

Eines will Carlo Sommaruga klargestellt haben: Er sei kein Antisemit. «Ich beteilige mich am Kampf gegen den Antisemitismus», sagt er, allein schon aus familiärer Tradition. «Meine Mutter und meine Grosseltern brachten Juden aus Italien in die Schweiz, damit diese den Nazis entkamen.»

Es ist Mai 2024, auch an den Schweizer Universitäten finden Pro-Palästina-Proteste statt. Diese Bewegung, Carlo Sommarugas Biotop, ist wieder erstarkt. Sommaruga steht nun offen zu seiner israelfeindlichen Haltung. Im Wahlkampf um den Ständeratssitz hatte er diese noch versteckt – und alle Fragen nach allfälligen Kontakten zur HamasExterner Link in seiner Vita ignoriert.

Denn Sommarugas Wiederwahl in den Ständerat war eine Zitterpartie. Er musste in einen zweiten Wahlgang, und dies nur gerade einen Monat nach dem Angriff der Hamas auf Israel im Oktober 2023. Jede Verbindung zur Hamas konnte da nur schaden.

Erst nach seiner Wahl redete er in einem InterviewExterner Link über allfällige, unbewusste Berührungspunkte zur Hamas, und sprach sich gleichzeitig für einen Dialog mit dieser aus, sie sei ein «unumgänglicher Akteur».

Sommaruga war immer auch Mitglied des BDS, der internationalen Bewegung, die zum Boykott Israels aufruft. Die Organisation ist umstritten. Deutschland hat sie als antisemitisch eingestuft und beobachtet sie als «extremistischen Verdachtsfall».

Dem gegenüber steht ein Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von 2020, der BDS-Aktionen nicht als Hass- oder Gewalthandlungen taxierte, sondern diese im Rahmen der Meinungsäusserungsfreiheit verortete. Sommaruga ist zudem Präsident der parlamentarischen Freundschaftsgruppe Schweiz-Palästina.

«Schmerzgrenze überschritten»

Am 8. Mai 2024 also besucht Ständerat Sommaruga ein Protestcamp an der Universität Lausanne. «Als Parlamentarier, als Carlo Sommaruga», wie er sagt. Und meint: Nicht in erster Linie als Vertreter der SP.

Student:innen fordern dort, dass die Uni Lausanne wegen des Gazakriegs ihre Zusammenarbeit mit israelischen Hochschulen beende. Israel boykottieren: Sommaruga unterstützt diese Forderung öffentlich.

«Damit hat Carlo Sommaruga meine Schmerzensgrenze überschritten», sagt Erich Bloch. Er betont, dass er Israels aktuelle Strategie im Gazakrieg nicht unterstütze. «Sie schadet dem Ansehen der israelischen Bevölkerung nur noch mehr.»

Israels Regierung unter Netanjahu kritisiert er scharf. Doch die Universitäten in Israel, so Bloch, hätten mit dem Gazakrieg nicht das Geringste zu tun.

Austritt als «klares, ernstes Zeichen»

Die Unis in Haifa, Tel Aviv seien zum Teil von Schweizer Philantropen finanziert, erzählt der Auslandschweizer, und am Weizmann-Institut in Rehovoth studierten viele Schweizer:innen. «Von israelischen Forschungsergebnissen profitiert die Schweiz mehr als umgekehrt», sagt Bloch.

Final enttäuscht von seinem Parteikollegen Sommaruga entscheidet sich Bloch deshalb zu einem «klaren, ernsten Zeichen»: Austritt der SP-Antenne Israel aus der internationalen Sektion der SP Schweiz – also die Auflösung dieses Ablegers der Schweizer Sozialdemokratie in Israel, den Bloch einst selbst gegründet hat.

Dass eine Ausland-Antenne aus Protest ihre Muttersektion verlässt, ist in der Geschichte der SP Schweiz ohne Beispiel. «Wir bedauern es ausserordentlich, dass sich die betroffenen Genoss:innen nicht mehr in der SP International engagieren wollen», teilt die SP Schweiz dazu auf Anfrage mit. 

Die Mitgliederzahl der israelischen SP-Antenne beziffert Bloch mit rund 80 Personen. Das ist nicht viel. Carlo Sommaruga zweifelt an dieser Zahl. «Bloch hat der Parteizentrale nie eine Mitglieder-Liste vorgelegt», sagt Sommaruga. **

Erich Bloch jedoch entgegnet: «Wir haben bei den Nationalratswahlen 2023 unseren Beitrag geleistet und viele Stimmen aus Israel organisiert.» Nie habe Sommaruga dies gewürdigt, sondern ihn und die Genoss:innen noch ständig desavouiert.

Sommarugas Positionierung soll demnächst auch im Auslandschweizerrat zur Sprache kommen. Eine Petition von Auslandschweizer:innen in Israel will das Vorstandsmitglied Carlo Sommaruga zu Neutralität verpflichten.*

«Tragische Ereignisse»

Dieser selbst will den Austritt der SP Antenne Israel nicht kommentieren. Seine Solidarisierung mit den anti-israelischen Protesten an der Uni Genf und Lausanne erklärt er gegenüber SWI swissinfo.ch so: «Die Geschichte im Nahen Osten hat nicht am 7. Oktober 2023 begonnen. Das waren zwar tragische Ereignisse – ein inakzeptabler Terrorakt – aber die Geschichte des Leidens des palästinensischen Volkes beginnt vor 1948 und drückt sich bis heute mit der permanenten Nakba aus.»

Als «Nakba» («Katastrophe») wird die Vertreibung oder Flucht von Palästinenser:innen aus dem Gebiet des neu gegründeten Staats Israel bezeichnet.

«Dass sich die Jugend angesichts des Leidens des palästinensischen Volkes mobilisiert, ist eine grossartige Sache», sagt Sommaruga weiter. Er verweist auf spanische Unis, die ihre Partnerinstitute in Israel zum Handeln aufforderten. Zudem: «Wissenschaft war immer auch Politik.»  Auch israelische Universitäten, die sich trotz Verstössen gegen das Völkerrecht nicht positionierten, betrieben mit ihrem Schweigen Politik, sagt er.

Im Gazakrieg «den Kompass verloren»

Das sieht Sommarugas Parteikollege im Ständerat, Universitätsprofessor Daniel Jositsch, anders. Gegenüber SWI swissinfo.ch spricht Jositsch von «Parteikollegen, die im israelisch-palästinensischen Konflikt den Kompass verloren haben und sich zu weit zum Fenster rauslehnen». In der Zeitung «Le Temps»Externer Link sagt Jositsch in Bezug auf die Hamas zudem: «In der SP gibt es seit langem eine Tendenz, problematische Gruppen zu unterstützen, auch wenn man offiziell neutral ist.»

Transparent gegen Israel zum Gazakrieg an der Universität Genf mit der Aufschrift: "From the river to the Sea,.."
Strafbar? Transparent gegen Israel an der Universität Genf. Keystone / Martial Trezzini

Im Übrigen taxiert Jositsch die Proteste an der Uni Genf, wo Sommaruga auch hinging, als Strafsache. Er ist Strafrechtsprofessor und sieht in Transparenten mit der Parole «From the River to the Sea» den Tatbestand der Rassendiskriminierung als erfüllt, da damit die Auslöschung Israels gefordert werde.

Pro Palästina oder Pro Israel?

Tatsächlich hat die Solidarität der europäischen Linken mit Palästina eine lange Tradition. Während viele Sozialdemokrat:innen zunächst begeistert vom jungen Staat Israel und den dortigen Kommunen, den genossenschaftlich organisierten Kibbuzims, geschwärmt hatten, änderte sich das nach 1967, nach dem Sechstagekrieg.

Wegen der damaligen Luftschläge Israels gegen Ägypten und dem Bau einer Allianz mit den USA nahm die Linke Israel zunehmend als US-imperialistisch wahr. Viele Sozialdemokrat:innen wendeten sich ab und solidarisierten sich fortan mit den Palästinenserbewegungen, die man als Opfer identifizierte.

So entstanden innerhalb der Sozialdemokratie in Bezug auf Nahost zwei Strömungen, die lange nebeneinander existieren konnten: Die Israel-Begeisterung der Kibbuz-Bewegung einerseits, der Erich Bloch anhängt. Andrerseits die antizionistische Palästina-Solidarität, der sich Carlo Sommaruga verpflichtet fühlt.

Die Partei selbst hat der antizionistischen Strömung im Jahr 2019 mit einer Resolution gegen AntisemitismusExterner Link einen Zaun gesteckt. Ende Februar 2024 verabschiedete sie auch eine Resolution zum Gaza-KriegExterner Link, die ein Streben nach Ausgewogenheit dokumentiert. Sie verurteilt sowohl israelische wie palästinensische Gewalttaten.

Doch das Gift des 7. Oktober 2023 wirkte stärker als aller gute Wille: Der Graben hat sich vertieft. Anfang Juni sucht die SP-Parteileitung das Gespräch mit Erich Bloch.

Der Text wurde am 3. Juni 2024 aktualisiert.

*Die Petition der Auslandschweizer:innen aus Israel ist an einer Vorstandssitzung des Auslandschweizerrats vom 1. Juni zurückgewiesen.

** Die in kursiv gesetzten Stellen wurden am 3. Juni auf Wunsch von Carlo Sommaruga ergänzend hinzugefügt.

Editiert von Benjamin von Wyl

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