Gelebte direkte Demokratie mit und ohne Gitter
"Urir Jorowrtawarutiun", "Chorherdaran" und "Federal Tun": Es ist eine ziemliche Herausforderung, den kaukasischen Sturm von Konsonanten, Kratz- und Zischlauten, die mir Lusine Shahraymanyan Silbe für Silbe diktiert, in unseren Buchstaben zu Papier zu bringen. Es sind dies die armenischen Begriffe für direkte Demokratie, Parlament und Bundeshaus.
«Nicht mit r, sondern stärker, mit ch – Uchich! Jochowchtawachutiun!», lehrt mich die Übersetzerin mit strengem Blick auf meinen Notizblock.
Shahraymanyan ist Teil einer achtköpfigen Delegation der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) aus Armenien, die Ende September die Schweiz und Deutschland besuchte. Ihr gehörten Vertreter von Parlament, Verwaltung und der Zivilgesellschaft an. Geleitet wurde sie von Bruno Kaufmann, Nordeuropa-Korrespondent von Radio SRF in Skandinavien, Präsident des Instituts für Initiative und Referendum (IRI) sowie Chefredaktor von People2PowerExterner Link, einer Internetplattform zur Förderung der direkten Demokratie, die swissinfo.ch zur Verfügung stellt.
Im Gespräch mit Behörden, Akteuren und Experten machten sich die Teilnehmer ein genaues Bild der Mechanismen direkter Demokratie. Der Fokus der Gäste: Die Stärkung der politischen Mitbestimmung der Bürger im armen Land, in dem der Konflikt mit Aserbaidschan um Berg-Karabach erst Anfang August wieder mit tödlicher Gewalt aufgeflammt ist.
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«Land mit zu viel Opposition nicht mehr regierbar»
Besichtigungs-Tour im BundeshausExterner Link. «Können alle Bürger mit einem Schweizer Pass das Bundeshaus besuchen?», fragt Ashot Giloyan, Abteilungsleiter im Ministerium für Territorialverwaltung. Die sechs Führungen pro Woche stünden allen offen, auch Bürgern ohne Schweizerpass, erklärt Catherine Ochsenbein von den Parlamentsdiensten. «Alle Bewohner des Landes sollten mindestens einmal das Bundeshaus besuchen. Das soll die Verbindung mit den demokratischen Werten der Schweiz stärken», sagt sie.
Hinter der Mauer
«Das Parlamentsgebäude der Republik Armenien in Jerewan steht hinter einer drei Meter hohen Mauer. Besuche sind nur auf Voranmeldung möglich, und der Eintritt gilt jeweils nur für einen bestimmen Raum zu einer bestimmten Zeit», schildert Giloyan.
«Stammt das grosse WandbildExterner Link von einem einzigen Künstler, oder waren viele daran beteiligt?», will Nune Hovhannisyan, Mitglied der siebenköpfigen Zentralen Wahlkommission der Republik Armenien, wissen. Das Fresko stamme von einem Künstler aus der Deutschschweiz, so Ochsenbein. «Aber für das Bundeshaus gab es sehr viele Aufträge, die bewusst an Künstler aus allen Regionen vergeben wurden. Der Gedanke dahinter: Alle sollen mithelfen und sich mit ‹ihrem› Bundeshaus identifizieren.»
«Wer ist Präsident der Regierung?» Arayyk Aghababyan, Parlamentarier der liberalkonservativen Partei «Blühendes Armenien», sorgt mit seiner Frage für eine grössere Diskussion. Die Erklärung, das Amt des Schweizer Bundespräsidenten sei ein rein repräsentatives, das erst noch auf ein Jahr beschränkt sei, sorgt für allgemeines Stirnrunzeln. Der egalitäre Ansatz, das Amt des Bundespräsidenten als «primus inter pares» oder «Erster unter Gleichgestellten» auszulegen, der oder die über keinerlei zusätzliche politische Macht verfügt, will den Gästen nicht so recht einleuchten.
Wahlkreise haben es in sich
Botschafter Claudio Fischer, Leiter des Bereichs Aussenbeziehungen der Parlamentsdienste, übernimmt den Stab und gibt einem Crashkurs in Sachen Schweizer Demokratie. «Wahlen in die Grosse Kammer des Schweizer Parlaments sind primär Parteiwahlen, jene in den Senat Personenwahlen», erklärt er. Im Schnitt müsse ein Kandidat 40’000 Wählerstimmen erreichen.
Eine solch hohe Hürde sei eine Verletzung der Rechte jener Kandidaten, die aus kleineren Kantonen stammten, wendet der Parlamentarier Aghababyan ein. Im Gegenteil, beschwichtigt Fischer, dank kleineren Wahlkreisen hätten es diese einfacher. In bevölkerungsärmeren Regionen weniger, im Kanton Zürich mit über einer Million Einwohnern entsprechend mehr. Der armenische Politiker nimmt’s zur Kenntnis, aber seine Miene verrät: Hier ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.
Vom Mischen der Kandidaten auf der Liste
Dann kommt Fischer zum «Panaschieren». Nicht überraschend löst er mit dem Stichwort in den Köpfen der Armenier ein mittleres Chaos aus. Panaschieren besagt, dass Wähler der Liste ihrer bevorzugten Partei Kandidaten der Konkurrenzpartei Y oder Z hinzufügen können.
Mit der Geduld des Diplomaten nimmt Fischer ein, zwei, drei Erklärungsanläufe, derweil Bruno Kaufmann ein erstes Mal seine Uhr konsultiert. «Panaschieren ermöglicht den Wählern mehr Flexibilität», resümiert Fischer. Das «Kumulieren» – Wähler können Kandidaten auch doppelt auf ihren Wahlzettel setzen – lässt Fischer wohlweislich aus.
Armenisches Brunnen-Idol
Nach dieser Paukerei ist frische Luft angesagt – Politikwissenschaftler und Historiker Claude Longchamp führt die Gäste durch die Berner Altstadt, die zum Weltkulturerbe der Unesco zählt. Ausgehend von der Geschichte der lange Zeit aristokratisch beherrschten Stadt erklärt Longchamp das parallele Wachsen der Eidgenossenschaft, die Einführung der Demokratie durch den französischen Kaiser Napoleon und die demokratischen Lernprozesse im Bundesstaat nach 1848.
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Stimmen der armenischen OSZE-Delegationsteilnehmer
Am Brunnen in der Postgasse macht Longchamp einen Exkurs in die Gegenwart. «Mit seinen 40 Jahren ist das ein relativ junger Brunnen. Ein Berner Künstler, welcher der 1968er-Bewegung angehörte, hat ihn mit einer Treppe und einem Podest versehen, auf das jedermann steigen kann. ‹Weg mit den Vorbildern, wir selbst sind Vorbilder'», fasst Longchamp die Intention des Künstlers zusammen und fragt: «Wer von Ihnen ist ein Vorbild?» Nune Hovhannisyan fasst sich ein Herz und steigt die Stufen aus Metallgitter empor. «Ich hoffe, dass ich als Wahlbeobachterin arbeitslos werde und in Armenien direkte Demokratie herrscht wie in der Schweiz», übersetzt Shahraymanyan ihre Kurzansprache, die von den Untenstehenden mit Applaus quittiert wird.
Vor dem Erlacherhof, dem historischen Sitz des Berner Stadtpräsidenten, erhalten die Gäste ungeplanten Anschauungsunterricht. Passant um Passantin steuern einen Briefkasten an, entnehmen ihren Taschen und Rucksäcken graue Kuverts und werfen diese in die Box aus solidem Metall. Die Gäste beobachten via ihre Handykameras, wie Stimmbürgerinnen und Stimmbürger der Stadt Bern brieflich über die beiden eidgenössischen Vorlagen vom 28. September abstimmen.
Das blanke Entsetzen
Auch der Journalist, der zufällig sein Abstimmungs-Kuvert dabei hat, wird zur kurzzeitigen Attraktion: Wie ein Präsident muss er sein Stimmkuvert zur Hälfte in die Spalte versenken, dann lange Sekunden warten und siegesgewiss in die Handykamera-Runde lächeln, bevor er seine Stimme endgültig in der Urne versenkt.
«Du lehnst doch hoffentlich die Einheitskrankenkasse ab?!», fragt Shahraymanyan mit sehr dezidierten Unterton in ihrer Stimme. Blankes Entsetzen fährt ihr ins Gesicht, als der Schreibende und Stimmbürger ihr und der Runde ebenso dezidiert eröffnet, Ja gestimmt zu haben. Dass in der direkten Demokratie Schweiz jemand aus freien Stücken für ein politisches Projekt namens Einheitskasse votiert, kann die engagierte Übersetzerin, die in ihrer Jugend bis zum Zerfall der Sowjetunion 1991 vom Einheits-Diktat der kommunistischen Partei gegängelt worden war, nie und nimmer verstehen.
Sowohl die Einführung einer Einheitskrankenkasse als auch die Steuersenkung für Gastwirte wurden vom Souverän bachab geschickt.
«Wieso hat es Gitter vor dem Erlacherhof, aber keine vor dem Bundeshaus?», fällt jemandem aus der Runde auf. Longchamps Antwort kommt postwendend: «Er wurde vor der Französischen Revolution gebaut und ist somit ein Symbol der Aristokratie, nicht der Demokratie.»
Armenier «beflügelt»
Bruno Kaufmann, Leiter der OSZE-Delegation mit Vertretern aus Armenien, zog gegenüber swissinfo.ch eine positive Bilanz: «Moderne Direkte Demokratie ist (fast) überall, wo auch repräsentativ-demokratische Verfahren eingeführt und ausprobiert werden. Die Studienreise mit der OSZE-Delegation aus Armenien machte deutlich, wie unterschiedlich sich die historischen Erfahrungen und geopolitischen Kontexte auf die Nutzungsbedingungen und praktischen Anwendungen der Volksrechte auswirken.»
«So funktioniert die Schweizer Direkte Demokratie nicht zuletzt deshalb so gut, weil die langen und umfassenden Erfahrungen das Vertrauen der Bürger in die Institutionen gestärkt hat und somit umfassende Kontrollmechanismen überflüssig machen, währenddessen in post-autoritären Gesellschaften ein solches fehlt und zudem der zahlenmässige Verlust einer Wahl oder einer Abstimmung sogleich mit dem Verlust grundlegender Freiheitsrechte in Verbindung gebracht wird.»
«Die vielen Begegnungen und Gespräche haben nun aber die Armenier in ihrer Arbeit durchaus beflügelt, mit der Arbeit an der Vertiefung der eigenen Demokratie vorwärtszumachen und dabei grundlegende Erfahrungen der Schweiz und anderer Demokratien zu berücksichtigen.»
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