Gemeindefusionen in der Schweiz: Zwang zur Grösse
In der föderalistischen Schweiz hat die Gemeinde eine staatstragende Rolle und viele Kompetenzen, die sie mangels Grösse immer weniger gut wahrnehmen kann. Fusionen und Eingemeindungen liegen deshalb im Trend, zum Beispiel im Kanton Glarus.
Spektakuläre Massnahmen hat der Kanton Glarus beschlossen: Das dortige Stimmvolk hat sich an der Landsgemeinde im Mai 2006 dafür ausgesprochen, bis 2011 die Anzahl der Gemeinden von 25 auf 3 zu verringern.
Im Kanton wird seither intensiv über Namen für die drei Grossgemeinden gefeilscht.
Und vor allem: Was soll aus dem Namen Glarus werden? Glarinenda, Glarineten, Glarona, Turseron, Strician?
Semantiker und Historiker legten sich bei der Namensfindung ins Zeug. Sie forschten nach Urbezeichnungen und nach alemannischer Bedeutungsschwere.
Am Schluss der Nabelschau siegte jedoch die Nüchternheit. Die drei neuen Glarner Gemeinden werden Glarus–Nord, Glarus–Mitte und Glarus–Süd heissen, wenn sie im Januar 2011 konstituiert sind.
Nicht weniger engagiert sind in Glarus die Debatten über Wappen und Regierungsstrukturen. Glarus-Mitte, bestehend aus den bisherigen Gemeinden Glarus, Riedern, Netstal und Ennenda, hat sich auf der Suche nach einem Gemeinsamkeit stiftenden Wappenbild für den silbernen Schrägfuss mit vier Sternen auf rotem, gelbem und schwarzem Hintergrund entschieden. Der bisher dominierende Steinbock fällt weg.
Neue Formen, neue Inhalte
Glarus sucht nicht nur nach neuer Form, sondern auch nach innovativem Inhalt.
Der künftige Gemeinderat von Glarus-Mitte wird schlank nach Ressorts geführt. Im Norden und Süden des Kantons wird noch über die Verwaltungs– und Regierungsform gefeilscht.
Landrat und Jungsozialist Sergio Haller (23) erklärt gegenüber swissinfo, warum Glarus nach Zeiten des Stillstands einen innovativen Weg gehen musste: «Ich studiere Biologie an der Universität Zürich. In Glarus werde ich jedoch bei der jetzigen Ausrichtung des Kantons keine Jobaussichten haben. Kleine Gemeinden sind nicht in der Lage, die richtigen Dienstleistungen für uns Bürger zu erbringen.»
Der Kanton Glarus hat weniger als 40’000 Einwohner, zu wenige, um dafür 25 politische Gemeinden institutionell, politisch wirtschaftlich und sozial zu betreuen.
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Landsgemeinde
Schweiz kleinräumiger als man denkt
Die Schweiz ist nicht nur im ländlichen Glarus kleinräumig. Nur rund 30 Gemeinden des Landes zählen über 20’000 Einwohner. Eine mittlere Gemeinde schwankt zwischen 1000 und 5000 Einwohnern.
An Glarus lassen sich jedoch verschiene neuralgische Punkte der Schweizer Gemeindestruktur illustrieren.
Der parteilose Kurt Reifler, Initiant des Gemeinde–Fusionsprojekts in Glarus, erläutert gegenüber swissinfo, woran viele Schweizer Gemeinden kranken: «Als Glarner bekam ich den Eindruck, dass wir uns durch komplizierte Strukturen immer mehr selbst blockierten und nicht mehr vorwärts kamen. Gemeinden im Kanton hatten zunehmend Mühe, Behördemitglieder zu finden. Wir mussten jeden nehmen, der sich zu einem Amt befähigt fühlte.»
Die Gemeindefusionen haben ihren Preis: Strukturen und Überkapazitäten müssen zurückgebaut werden, Entlassungen von Gemeindeangestellten sind kaum zu vermeiden.
«Für die Basisarbeit in den drei Glarner Grossgemeinden werden vermutlich gleich viele Mitarbeiter beschäftigt werden», meint Kurt Reifler dazu. «Aber es braucht weniger Kader, weniger Gemeindeschreiber. In der alten Gemeindestruktur gibt es zu viele Häuptlinge und zuwenig Indianer.»
Pragmatismus führt zur Fusion
Der Trend zur Gemeindefusion geschieht heute aus pragmatischen Gründen, aus Sachzwängen und aufgrund von finanziellen Engpässen. Die Gemeinden müssen heute mehr Aufgaben übernehmen, die grosse Professionalität und Spezialisierung erfordern.
Dadurch stossen viele Kommunen an ihre Leistungsgrenzen. Immer mehr Gemeinden des Landes schliessen ihre Rechnung mit roten Zahlen ab.
Daniel Kettiger von «PuMaConsult» schreibt in einer Studie, gut eingeleitete Gemeindefusionen generierten Einsparungen bei der Infrastruktur von Gebäuden und Informatik, erhöhten die Wirksamkeit der Verwaltungen, die Qualität der Dienstleistungen und verbesserten die regionale Wettbewerbsposition.
Gegner der Fusionen führen ins Feld, die Zusammenschlüsse zerstörten die Bindung ans Dorf und unterminierten das Zugehörigkeitsgefühl der Bürger.
Unbestritten ist, dass grosse Gemeinden differenziert und bedarfsorientiert Räume für Wohnen, Freizeit, Gewerbe, Wirtschaft und Bauland bereitstellen können.
Signalwirkung aus dem Hinterland
Hat der radikale Umbau der Gemeindestruktur im Kanton Glarus Signalwirkung für die ganze Schweiz?
Jungsozialist Sergio Haller wagt einen positiven Ausblick: «Wir galten bisher als Bergler, die nicht unbedingt mit Progressivität glänzten. Wir bekommen Anerkennung für unseren Mut, bisher noch nicht begangene Wege zu gehen. Und die übrige Schweiz konnte miterleben, dass die direktdemokratische Landsgemeinde in der Lage ist, fortschrittliche Entscheide zu fällen.»
Wird Sergio Haller seinen Beruf als Biologe je in Glarus ausüben können? Der Jungsozialist lässt alles offen: «Wo ich in zehn Jahren bin, weiss ich nicht. Aber ich bin und bleibe Glarner. Und irgendwann kommt jeder zurück.»
swissinfo, Erwin Dettling
Wenn sich zwei oder mehrere Gemeinden zu einer neuen Gemeinde zusammen schliessen, spricht man von einer Gemeindefusion.
Wesentliches Merkmal dafür ist die vollständige Aufgabe der Selbstständigkeit.
Die Gemeindefusion gibt es in zwei Grundformen:
– Zusammenschluss zu einer neuen Gemeinde.
– Eingemeindung, das heisst die Aufnahme einer Gemeinde in eine andere.
In der Schweiz haben die Gemeinden – neben Kanton und Bund – eine staatstragende Funktion.
Das Schweizer Bürgerrecht wird auf Gemeindeebene vergeben.
1850, zur Zeit der Gründung der modernen Eidgenossenschaft, gab es 3205 Gemeinden. Heute sind es noch 2636.
Im Jahr 2008 verschwanden 79 Gemeinden, so viele wie noch nie in einem Jahr seit Gründung des Bundesstaates im Jahre 1848, wie das Bundesamt für Statistik meldet.
Vor allem in den Kantonen Tessin, Waadt, Wallis, Neuenburg, Bern, Luzern, Schaffhausen, St. Gallen, Graubünden und Jura sind Gemeindefusionen häufig.
Uri (20), Schwyz (30), Obwalden (7), Zug (11), Appenzell Ausserrhoden (20) haben seit 158 Jahren die gleiche Anzahl von Gemeinden.
Gemäss den Angaben des Bundesamtes für Statistik zählen rund 1300 Gemeinden (ca. 50 %), weniger als 1000 Einwohner.
1028 Gemeinden weisen zwischen 1000 und 4999 Einwohner auf, nur 30 Gemeinden zählen mehr als 20 000 Einwohner.
Kaiserstuhl (Aargau) und Rivaz (Waadt) sind mit 32 Hektaren die kleinsten Gemeinden; Davos mit 28’300 Hektaren ist – nach der Fusion mit Wiesen – flächenmässig die grösste Gemeinde der Schweiz.
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