Geschichte des Schweizer Vereins: Spiegel der Zeit
Bei der Gründung vor 100 Jahren war der Schweizer Verein Braunschweig ein Zusammenschluss von Melkern und ihren Familien. Sie hatten eine starke Bindung zur Heimat, ähnliche Interessen und Probleme, die sie gemeinsam lösen wollten. In der Geschichte des Vereins bleibt Einiges im Dunkeln.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verliessen viele Schweizer aus existenziellen Gründen ihre Heimat. Nicht wenige zogen auch in die Region von Braunschweig. Gefragt waren die Söhne aus bäuerlichen Familien, weil sie als Fachleute im Bereich der Rinderzucht und Milchwirtschaft galten. Der Kuhstall sicherte damals den landwirtschaftlichen Betrieben das Einkommen.
«Die Melker hatten die Schweizer Tugenden – gewissenhaft, tüchtig, erfolgreich», sagt Roland Schwartz. Der pensionierte Geschichtslehrer aus Vechelde, der mit einer Schweizerin aus dem jurassischen Saignelégier verheiratet ist, hat die Geschichte des 100-jährigen Schweizer Vereins in Braunschweig zurückverfolgt.
Das Gerede von den «Goldenen 20er-Jahren» sei für den grössten Teil der Bevölkerung damals zynisches Geschwätz gewesen, sagt Geschichtslehrer Schwartz, und für die ausgewanderten Schweizer waren es Jahre bitterer Armut.
Über die Geschichte des Schweizer Vereins während des Nationalsozialismus hat Roland Schwartz keine Dokumente gefunden. Hitler habe dafür gesorgt, dass die Vereine – sofern sie weiterexistierten – «gleichgeschaltet», das heisst unter die Kontrolle der NSDAP gestellt wurden. «Der Schweizer Verein war inaktiv, in einem Zustand des Schlafs».
Heikle Gratwanderung
Für die rund 50’000 Schweizer in Deutschland müsse das Leben in dieser Zeit eine Gratwanderung gewesen sein, sagt die Schweizer Historikerin May B. Broda, die über die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer in Deutschland und deren Rückwanderung in die Schweiz zwischen 1933 bis 1950 forscht.
Der Freistaat Braunschweig, der am 4.April 1933 mit dem Reich gleichgeschaltet wurde, besass Ende April das «erste rein nationalsozialistische Parlament». 1932 hatte der Braunschweigische Landtag den Österreicher Adolf Hitler eingebürgert. Die NSDAP genoss seit 1930 grossen Rückhalt in Landwirtschaft und Mittelstand.
Auf die rund 400 Schweizer Staatsangehörigen (vgl. Grafik) übten nicht nur die Nationalsozialisten, sondern auch die sogenannten Schweizer Fronten Druck aus, die von nationalsozialistischen Ideen überzeugt auch im Land Braunschweig einen aktiven Ableger hatten.
Der damalige Konsul in Bremen, der für die rund 2800 Landsleute in den Freistaaten Braunschweig, Bremen, Lippe und Oldenburg sowie der preussischen Provinz Hannover verantwortlich war, habe anfangs den NS-Einfluss insbesondere auf die Schweizer Jugend und Vereine bekämpft, sagt May B. Broda: So sei er 1934 mit Erfolg eingeschritten, als man den «Schweizerverein Hannover» mit der «Bezirksgruppe Landwirtschaft, Sparte Melker, der Deutschen Arbeitsfront (DAF)» gleichschalten wollte. Sein Argument: Ein «vaterländischer Verein» sei keine berufsständische Melker-Vereinigung.
Widerstand gab es auch unter den Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern. Liberale und Linke taten sich schwer mit der deutschen Diktatur. Aber allein der Verweigerung des offiziellen Grusses «Heil Hitler!» drohte eine Gefängnisstrafe.
Widersprüchliche Signale aus Bern
Aus der offiziellen Schweiz erhielten die Eidgenossen nördlich des Rheins widersprüchliche Signale. Einerseits waren die Schweizer Behörden froh um jede und jeden, der in Deutschland eine Stelle hatte, und selbst die Mitgliedschaft in der Deutschen Arbeitsfront betrachtete man in Bern aus beruflichen Gründen als vernünftig.
Andererseits appellierten die Schweizer Behörden und ihre Vertreter in Deutschland in Bezug auf die Mitgliedschaft in der NSDAP an die Eigenverantwortlichkeit. «Die allgemeine Devise war, dass sich Schweizerinnen und Schweizer im Dritten Reich politisch nicht einmischen sollten», sagt May B. Broda.
Umso wichtiger wurden die Schweizer Vereine, die als Bindeglied und Nachrichtenbörse der Heimat funktionierten. Die Vereinspräsidenten wirkten oft als Vertrauensmänner der Konsulate.
Sie hatten die Anweisungen, Massnahmen, Richtlinien und Verfügungen der Eidgenossenschaft an die Landsleute weiterzuleiten, die heimatlichen Fürsorgegelder auszuzahlen und die Kleider- und Lebensmittelpakete zu verteilen. Die Schweizervereine hatten jeweils in Krisen- und Kriegszeiten Konjunktur, sagt die Historikerin.
Schokolade und Kaffee aus der Heimat
Wie nützlich die Schweiz ihre Landsleute unterstützt hatte, ist umstritten. Geschichtslehrer Roland Schwartz ist aber überzeugt, dass den Schweizern in seiner Region dank Schweizer Pass und sogenannten Schutzbriefen der Eidgenossenschaft während des Krieges sehr viel Unheil erspart worden war – auch nach dem Krieg.
«Einmal im Monat kamen Lebensmittelpakete aus der Schweiz, ‹Zuteilung› genannt. Das ging so bis 1948», sagt er. Mit Schokolade, Kaffee und Milchpulver hatte man sich in dieser entbehrungsreichen Zeit auch andere nützliche Dinge erwerben können.
Aber auf den Wohlstand, der sich in andern Ländern Europas nach dem Krieg schneller verbreitete, mussten die meisten Deutschen und auch deren Mitbürger aus der Schweiz noch viele Jahre warten.
Wenige «neue» Schweizer im Verein
Es gebe auch heute – trotz Steuerstreit – keinen Grund, die Schweizer Staatsbürgerschaft in Braunschweig zu verbergen. Im Gegenteil, der solide Ruf der Schweizer wirke sich durchaus auch geschäftsfördernd aus. Und für eine Mitgliedschaft im Schweizer Verein gebe es heute immer noch viele praktische und angenehme Gründe.
Zu den Kindern und Kindeskindern der Auswanderer, die kaum noch Schweizerdeutsch oder Französisch sprechen, gesellten sich im Schweizer Verein seit den sechziger Jahren auch Eidgenossen, die ihre Heimat nicht aus existenziellen Gründen verliessen.
Sie zogen wegen des Partners oder aus Karrieregründen nach Norden. Viele waren und sind erfolgreich und prägen wesentlich das Bild der Schweiz, meint Roland Schwartz.
Nicht nur der Verein, auch die Mehrzahl seiner Mitglieder sind in die Jahre gekommen. «Die jungen Schweizer, die heute nach Deutschland kommen, sind mobile Menschen, die vielleicht 2-3 Jahre eine Arbeit haben und dann wieder wegziehen. Es gibt nicht mehr viele, die sich dauernd hier niederlassen», begründet Roland Schwartz die Nachwuchssorgen des Vereins.
Peter Siegenthaler, swissinfo.ch
Der Verein wurde 1910 gegründet. Heute versteht er sich auch als Service-Anbieter zum Beispiel in Fragen des Erb- und Familienrechts, der Doppelbürgerschaft, der AHV und des Wahl- und Stimmrechts in der Heimat.
Der Verein organisiert nicht nur gesellige Anlässe wie 1. Augustfeiern, sondern auch Informationsveranstaltungen mit Experten, vermittelt nützliche Kontakte zu wichtigen Stellen in Deutschland und der Schweiz.
Im Vereinsregister sind derzeit 100 Mitglieder eingetragen. Präsidentin ist Alice Schneider aus Braunschweig.
Der Verein ist eingebettet in die Auslandschweizer Organisation ASO, welcher allein in Deutschland 45 Vereine angeschlossen sind.
In diesem Jahr ist der Braunschweiger Verein Gastgeber der Präsidentenkonferenz der Schweizer Vereine in Deutschland.
May B. Broda ist Filmemacherin, Historikerin und Publizistin.
Ihr gegenwärtiges Forschungsprojekt:
«Die schweizerische Rückwanderung aus dem nationalsozialistischen Deutschland. Die Koevolution der schweizerisch-deutschen Auslandschweizerpolitiken».
Ihre jüngste Publikation mit Deutschlandbezug:
May B. Broda, Der Schweizer Bürger Leopold Obermayer im KZ Dachau. Ein frühes Beispiel eidgenössischer Opferschutzpolitik, in: Nationalitäten im KZ, Dachauer Hefte, Studien und Dokumente zur Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, im Auftrag des Comité International de Dachau, Bruxelles, Heft 23, 2007, S. 3-29.
Dokumentarfilm mit Deutschlandbezug:
May B. Broda, Hans Frölicher – Der gute Schweizer in Berlin. Schweizerisch-deutsche Beziehungen 1938-1945, 3sat/1992;
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