Gianni Frizzo und das Recht auf Selbstverteidigung
Gianni Frizzo hat den Streik gegen die Restrukturierung des SBB-Industriewerks in Bellinzona geleitet. Dadurch wurde er auf einen Schlag in der ganzen Schweiz bekannt. Als Sprecher der Belegschaft fordert er ein Recht für die Arbeiter, sich selbst zu verteidigen.
Der Streik der Arbeiter des SBB-Industriewerks von Bellinzona im Jahr 2008 stellt einen der wenigen Fälle in der Geschichte der Schweiz dar, in welcher die Belegschaft einen umfassenden Restrukturierungsplan zu Fall brachte und Massenentlassungen verhinderte. Für Gianni Frizzo zeigt diese Erfahrung, dass Arbeiter ihre Rechte selbständig und mit Erfolg verteidigen können.
swissinfo.ch: Wie wurden Sie eigentlich zum Führer der Streikbewegung?
Gianni Frizzo: Es gab von meiner Seite keinen Plan, um in diese Rolle zu gelangen. In gewisser Weise war ich schon in den Jahren zuvor das Sprachrohr der Belegschaft, als Präsident der Personalkommission sowie der Gewerkschaft «Unione Operai Officine Bellinzona e Biasca», einer Untersektion des Schweizerischen Eisenbahnerverbandes SEV. Meine Nominierung zum Streikführer stellte wahrscheinlich eine Anerkennung meines langjährigen Engagements dar.
swissinfo.ch: Welche Lehren ziehen Sie aus dem Streik von Bellinzona?
G.F.: Er hat mir gezeigt, dass die Lohnempfängerinnen und Lohnempfänger ihre Ideen und Rechte alleine verteidigen können, ohne diese Aufgabe an andere Personen zu delegieren. Natürlich muss man dafür gut dokumentiert sein.
Ich habe aber auch gelernt, Tag um Tag eine echte Basisdemokratie zu leben. Die Entscheidungen wurden ja jeweils nur vom Plenum getroffen. In der Vollversammlung waren alle Arbeiter und Werktätigen, unabhängig von ihrem Vertrag und ihrer gewerkschaftlichen Zugehörigkeit.
Es gibt aber auch eine andere Dimension. Durch den Streik haben wir Werte erfahren, die schon verschwunden schienen. Solidarisch zu sein, weinen, lachen oder einfach zuhören. Für einmal waren auch die ganzen Unterschiede verschwunden, die uns sonst trennen. Religiöse, nationale, ethnische oder parteipolitische Unterschiede.
swissinfo.ch: Sie sind eine politische Person, auch wenn Sie kein Parteimensch sind.
G.F.: Ich bin überzeugt, dass jeder von uns täglich Politik macht. Jeder auf seine Art und Weise. In der Art, wie wir uns geben oder wie wir bestimmte Probleme angehen. Politisches Handeln findet im Alltag statt, in der Familie, bei der Arbeit, in der Umwelt oder als Konsument.
Mich kennt man für mein Engagement in der Arbeitswelt. Ich bin überzeugt, dass Arbeit ein Allgemeingut ist, das – wie Reichtum – gerecht verteilt werden muss. Ich glaube, dass die Gewerkschaften sich diese Vision von Arbeit wieder aneignen müssen. Dazu gehört es auch, gewisse Prinzipien wie den Arbeitsfrieden zu hinterfragen.
Denn der Arbeitsfrieden ist ein zweischneidiges Schwert, das letztlich doch nur den Interessen der Arbeitgeber dient. Ich meine: Wer arbeitet, muss auch das Recht haben, zu rebellieren. Das gilt heute noch mehr als früher.
swissinfo.ch: Welche Prioritäten geben Sie Ihrem politischen Handeln?
G.F.: Meine Priorität gilt den Personen, das heisst Personen als menschliche Wesen. Denn jedes soziale und berufliche Problem hat einen direkten Einfluss auf die Personen, auf die Familie und ihre Umgebung.
In einer Zeit grosser Veränderungen und Unsicherheiten nehmen Ängste und Phobien zu. Es ist daher wichtig, Sicherheit und Stabilität zu fördern, damit eine Person sich von einer ganzen Reihe von Problemen befreien kann.
swissinfo.ch: Was denken Sie über die Politik?
G.F.: Es gibt eine Sache, unter der ich wirklich leide, wenn ich die Politik beobachte: Die Umwälzungen in der Arbeitswelt finden kaum Beachtung.
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Ich habe den Eindruck, dass die Politik nicht versteht, was es bedeutet, unter bestimmten Bedingungen zu arbeiten. Was es beispielsweise heisst, mit zeitlich befristeten Verträgen zu arbeiten oder arbeitslos zu sein. Ich habe den Eindruck, dass es parallele Welten gibt.
Wenn Sie mir eine Provokation erlauben: Meines Erachtens sollte man alle zwingen, einmal einen zeitlich befristeten Job anzunehmen oder eine Weile lang arbeitslos zu sein. Nicht aus Spass, sondern ganz real. Damit diese Erfahrung wirklich erlebt werden kann.
swissinfo.ch: Wie beurteilen Sie die von den schweizerischen Unternehmen verfolgte Politik?
G.F.: Zu viele Unternehmungen verfolgen nur ihre eigenen Interessen. Sie kümmern sich nicht um ihre Angestellten. Die Arbeitsethik ist verloren gegangen. Partikularinteressen dominieren. So ist der Blick fürs Ganze verloren gegangen. In den SBB-Werkstätten versuchen wir der Direktion immer klar zu machen, dass sie nicht nur an das Unternehmen denken muss, sondern auch an die Leute, die im Unternehmen eine wichtige Aufgabe übernehmen.
Es gibt aber noch ein anderes Phänomen, bei dem ich erschaudere und gegen das ich kämpfe. Es geht um Arbeitsstellen, die man auf einer Seite schafft, um sie auf einer andern Seite wegzunehmen.
Man müsste einmal in dieser Hinsicht eine transparente Analyse machen, landesintern, aber auch grenzüberschreitend. Denn wenn all dies nur zur Folge hat, dass die Arbeitslosigkeit an andere Orte exportiert wird, wäre es eine wirkliche Tragödie.
swissinfo.ch: Wie wichtig ist es für Sie, an Wahlen teilzunehmen?
G.F.: Diese Frage bringt mich in grosse Verlegenheit. Denn ich habe den Eindruck, dass der Bürger heute nur zwischen dem geringeren Übel entscheiden kann. Deshalb interessieren sich viele Leute nicht mehr für die Politik. Das Profil der politischen Parteien stellt ein Problem dar.
Ich habe auch mit den Bezeichnungen «Mitte-rechts» oder «Mitte-links» grosse Mühe. Für mich gibt es eigentlich nur ein Zentrum, auch wenn sich dort heute viele Parteien tummeln. Wenn ich einen Kreis sehe, gibt es einen Punkt in der Mitte. Das ist das Zentrum. Es kann nicht zwei oder drei Zentren geben. Damit will ich sagen: Das Problem ist, dass die Positionen nicht klar genug sind.
Mir persönlich fehlt die Auseinandersetzung zwischen zwei klar entgegen gesetzten Formationen, die für eindeutige Positionen und klar definierte Werte stehen. Die heutige Art und Weise, sich auf der politischen Bühne profilieren zu wollen, geht meines Erachtens zu Lasten der Qualität.
swissinfo.ch: Welche Erwartungen haben Sie in Hinblick auf die nationalen Wahlen im Herbst?
G.F.: Wenn ich ehrlich bin: keine grossen.
Der Auslöser: Am 7.März 2008 kündigt die Führung von SBB-Cargo an, dass der Wagenunterhalt privatisiert und der Lokomotiv-Unterhalt zum grossen Teil verlegt werden soll. Der Industrieplan beinhaltet den Verlust von 120 Arbeitsplätzen.
Der Streik: 430 Arbeiter des IW-Bellinzona treten darauf unverzüglich in den Streik. Die Streikbewegung erfasst den ganzen Kanton und die Politik. Verkehrsminister Moritz Leuenberger interveniert.
Das Ende: Angesichts der Hartnäckigkeit der Streikenden und der grossen Solidarität in der Bevölkerung zieht die SBB-Spitze ihren Restrukturierungs-Plan am 5.April zurück. Am 7.April wird der Streik beendet.
Die Mediation: Der ehemalige FDP-Präsidenten Franz Steinegger wird von Bundesrat Leuenberger mit der Organisation eines runden Tisches beauftragt, der konstruktive Vorschläge für die Zukunft des IW-Bellinzona erarbeiten soll. Gemäss einer Studie soll das Werk in ein Kompetenzzentrum für Verkehr und Mobilität verwandelt werden.
Die Gegenwart: Drei Jahre nach dem Streik ist die Zukunft des SBB-Werks alles anders als gesichert. Nach der vor kurzem bekannt gewordenen Kündigung von Werksdirektor Sergio Pedrazzini haben die Arbeiter erneut die Alarmglocken geläutet.
Gianni Frizzo wurde am 30.August 1956 in Roveredo, Kanton Graubünden, geboren.
Ausbildung als Tapezierer-Dekorateur, später umgeschult als Wickler im Lokomotiv-Unterhalt.
Verheiratet seit 1977, zwei Kinder, drei Enkelkinde.
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Angestellt im SBB-Industriewerk von Bellinzona seit 1979.
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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