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Glaubenberg, der Berg der Hoffnung

Ein verschworenes Team: Igor Postolov (vorne) und seine Betreuer Edi Muntinga und Tanya Boneva. swissinfo.ch

Im Entlebuch sind 86 behinderte Kinder aus Ex-Jugoslawien zu Gast. Das Besondere: Sie werden von Angehörigen der Schweizer Armee betreut.

Die Ferienkinder geniessen die ungeteilte Aufmerksamkeit. Die Soldaten sind hoch motiviert und mit viel Einsatz und Herz bei der Sache, auch wenn ihnen Höchstleistungen abverlangt werden.

Mit sicherem Strich zieht Igor die Farbstifte. Linie um Linie fügt er zu einem Haus zusammen. Aus dem Kamin kringelt sich roter Rauch. Dann lässt er Halm um Halm das Gras spriessen, und zur Krönung zeichnet er zwei Blumen mit violetten Blüten.

Igor führt die Zeichenstifte mit dem Mund, da er mit Missbildungen an beiden Händen geboren wurde. Sein grösseres Handicap ist jedoch seine Hüftgelenk-Hypoplasie. Infolge einer genetisch bedingten Unterentwicklung kann Igor nur kurze Strecken auf den eigenen Beinen gehen. Und das nur unter grossen Schmerzen, wogegen er Medikamente nehmen muss.

Neue Freunde

«Mir gefällt es sehr in der Schweiz, und ich habe viele neue Freunde aus anderen Ländern kennengelernt», lobt Igor das Lagerleben. Er findet auch die Betreuung und das Programm gut, das ihnen geboten wird.

Der Zehnjährige aus Strumiza in Mazedonien ist eines von 86 Kindern des Ferienlagers, das die Stiftung swisscor auf dem Glaubenberg durchführt. Ausser aus Mazedonien stammen die Kinder zwischen 9 und 13 Jahren aus Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Serbien und Montenegro.

Gemischte Gruppen

In den modernen Unterkünften sorgen rund hundert Armeeangehörige dafür, dass die Gäste in der Schweiz zwei möglichst unbeschwerte Wochen verbringen können. Unter den Pflegenden sind auch zahlreiche Soldaten aus anderen Einheiten, die sich freiwillig zu diesem Dienst gemeldet haben.

«Wir wollen den Kindern ein Erlebnis ermöglichen und ihnen ein Beispiel für friedliches Zusammenleben bieten», sagt Thomas Süssli. Er ist Kommandant des Spitalbataillons 5, das die Gäste im Rahmen seines Wiederholungskurses (WK) auf dem Glaubenberg betreut.

Untergebracht sind die Kinder zwar in «Familien», die sich nach den Herkunftsländern richten. Im Tagesprogramm herrscht aber der Grundsatz, dass die Aktivitäten immer in gemischten Gruppen stattfinden. Übersetzer sorgen überall dafür, dass es zu keinem babylonischen Sprachen-Wirrwarr kommt.

Medizinische Betreuung

Wichtig ist auch die Verbesserung des medizinischen Zustandes der Kinder. Dazu gehören vor allem Kontrollen und Flicken von Zähnen, Anpassen von Prothesen, Brillen und Hörgeräten sowie Reparatur oder Ersatz von Rollstühlen.

«Mit unseren Ärzten, Pflegern, Betreuern und Physiotherapeuten sind wir sehr gut auf diese Aufgaben vorbereitet. Die Soldaten gehen mit riesigem Enthusiasmus an ihre Aufgaben», sagt Kommandant Süssli, der im zivilen Leben die Geschäfte eines Zürcher Beratungsunternehmens leitet.

Gute Teamarbeit

Beim Zeichnen hat Igor schnell zum Lachen zurückgefunden. «Möchtest du eine Kiwi?» fragt ihn Betreuer Edi Muntinga und schält die Frucht mit seinem Sackmesser. Igor schiebt sich die runden grünen Scheiben mit zwei Fingern in den Mund.

Kurz zuvor noch hatte er mit sich und seiner schweren Gehbehinderung gehadert: Statt mit den anderen zu einer Wanderung mit Grillieren aufzubrechen, musste er für einen Arzttermin zurückbleiben.

Kaum ist die Zeichnung fertig, fordert Igor Edi keck zum Armdrücken heraus. Der Physiotherapeut hat sichtlich Mühe, der Kraft des Jungen standzuhalten.

Zum verschworenen Team gehört auch Tanya Boneva. Mit ihren Aufmunterungen hat die 25-jährige Heilpädagogin, die den Jungen in Strumiza betreut, auch viel zum positiven Stimmungsumschwung beigetragen.

Gute Regeln

«Ich habe ihm gesagt, dass er trotz der Behinderung singen, spielen und schreiben kann. Und das sogar mit nur zwei Fingern, was viel schwieriger ist als mit fünf», sagt Boneva.

«Die Regeln im Camp und die vorgegebenen Zeiten fürs Aufstehen, Waschen, Zähneputzen, Essen etc. sind sehr gut für die Kinder», findet sie. Edi Muntinga lacht: «Wir Soldaten verwöhnen die Kinder, während Tanya deren Selbstständigkeit fördert.»

Nicht nur Schoggiseiten

Hauptmann Pascal Urech teilt die Begeisterung für den zweiwöchigen Einsatz. «Dies ist keine Alibiübung mit Figuranten, hier müssen wir auf Menschen eingehen», hebt er hervor. «Wir können Gelerntes umsetzen und sehen direkt, ob wir etwas richtig gemacht haben: nämlich dann, wenn das Kind lacht.»

Major Joachim Morgenthaler unterstreicht: «Die Kinder zeigen ganz spontan ihre Freude, und das motiviert die Soldaten enorm», so der stellvertretende Kommandant.

Die Betreuung ist für die Armeeangehörigen aber nicht nur ein sinnvoller und erfüllender Vollzeitjob, wie Thomas Süssli einräumt. «Es ist auch belastend, sich den ganzen Tag um blinde Kinder oder solche mit einer anderen schweren Behinderung zu kümmern.»

Viel los

Spiele, Feste und Ausflüge helfen, diese Belastungen aufzufangen. So besuchen Kinder und Betreuer die Glasfabrik Hergiswil, das Verkehrshaus Luzern oder machen eine Reise auf den Pilatus oder mit dem Schiff auf den Vierwaldstättersee.

Halt, die Zeichnung ist noch nicht fertig. Konzentriert nimmt Igor noch einmal einen Stift in den Mund und signiert: «With all my love, Igor.»

swissinfo, Renat Künzi, Glaubenberg

Das Friedens-Camp auf dem Glaubenberg dauert vom 9. bis zum 23. August.
Die Ferienkinder werden von rund 100 Armeeangehörigen betreut.
Um den 86 Kinder feste Bezugpersonen zu ermöglichen, sind sie in sechs so genannten Familien untergebracht.
Zur Familie gehören zwei Betreuer und ein Begleiter des Roten Kreuzes aus dem Heimatland sowie 10 bis 15 Betreuer der Schweizer Armee.
Drei bis vier Übersetzer der Armee begleiten Kinder und Betreuer den ganzen Tag und stehen in der Nacht auf Pikett.

Die Armee will die swisscor-Lager nicht mehr unterstützen. Das VBS begründet den Entscheid mit dem Mangel an Geld und Betreuern.

Die Ferienlager gibt es seit 2000. Sie werden von der Stiftung swisscor durchgeführt, die von alt Bundespräsidenten Adolf Ogi initiiert worden war.

Ziel der Lager ist es, Kindern aus Krisenregionen in der Schweiz gemeinsame Erlebnisse und medizinische Betreuung zu ermöglichen.

Die Kinder sind mittelmässig oder schwer behindert oder stammen aus Waisenheimen, armen Einelternfamilien oder zerrütteten Verhältnissen.

Die Betreuung wird jedes Jahr abwechselnd von einem Spitalbataillon der Schweizer Armee und vom Zivilschutz übernommen.

Die Kosten für Kleider, Spielzeuge, Ausflüge und medizinische Versorgung betragen pro Kind rund 1500 Franken.

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