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Gleichstellung als erstes Opfer der Krisenpolitik

Unter der neuen Regierung verlieren werden die Frauen, glaubt Than Hyung Ballmer-Cao. swissinfo.ch

Die Bundesratswahlen vom 10. Dezember brachten der Schweiz einen Rechtsrutsch. Zudem sitzt nur noch eine Frau in der Regierung.

swissinfo sprach mit Than Hyung Ballmer-Cao von der Universität Genf und fragte sie, ob die Schweizer Politik nun wieder fast zur reinen Männersache wird.

Als Than Hyung Ballmer-Cao, heute Professorin für Genderfragen, Ende der 60er Jahre als unverheiratete Flüchtlingsfrau aus Vietnam in die Schweiz gekommen war, wunderte sie sich, dass in der ältesten Demokratie der Welt die Frauen kein Stimmrecht hatten (dieses wurde von den Männern erst 1971 angenommen).

30 Jahre später konstatiert die Politikwissenschafterin, dass in der Schweiz die Frage der Gleichstellung von Frau und Mann wieder in den Hintergrund gerückt ist. Der 10. Dezember zeigt diesen Trend deutlich auf: Das Parlament hätte drei Frauen in den siebenköpfigen Bundesrat wählen können.

Stattdessen holten die Parlamentarier zu einem «Doppelschlag» gegen die Frauen aus: Sie versagten nicht nur Justizministerin Ruth Metzler die Wiederwahl, sondern verwehrten auch der ebenfalls bürgerlichen Kandidatin Christine Beerli die Nachfolge für Kaspar Villiger in der Landesregierung. Damit verbleibt Aussenministerin Micheline Calmy-Rey die einzige Frau im Bundesrat.

Fast beschämend: In den 155 Jahren seit der Geburt des Bundesstaates 1848 sassen bis heute insgesamt nur vier Frauen in der Schweizer Regierung. Und sie alle – Elisabeth Kopp, Ruth Dreifuss, Ruth Metzler und Micheline Calmy-Rey – waren und sind in dieser Welt der Männerherrschaft mit besonderen Hindernissen konfrontiert.

swissinfo: Was bedeutet dieser doppelte Ausschluss Metzler/Beerli vom 10. Dezember?

Than Hyung Ballmer-Cao: Er ist eine Konsequenz aus dem Aufstieg der Rechtsaussen-Politik während der letzten Jahre. Blocher hat mit diesem konservativen Kurs den Sozialstaat samt seinen Pfeilern Gleichheit und Solidarität wiederholt in Frage gestellt.

Zudem drehte sich bei diesen Wahlen die Debatte praktisch ausschliesslich um die Parteienvertretungen im Bundesrat. Die anderen Kriterien wie die Frauenfrage oder die Berücksichtigung der Regionen, die üblicherweise eine grosse Rolle spielen, wurden ausgeklammert.

Diese Art der Fokussierung erinnert mich an den früheren Diskurs von nationalen Befreiungs-Bewegungen in Ländern des Südens. Diese argumentierten jeweils, dass die Unabhängigkeit über allen anderen Zielsetzungen stehe. Als dann aber die Unabhängigkeit erreicht worden war, blieb die Gleichstellung der Geschlechter oder die soziale Gerechtigkeit im Hintergrund.

swissinfo: Wie war Ihre Reaktion auf diese Bundesratswahlen?

B.C.: Ich war wirklich enttäuscht. Das Schweizer Parlament hätte drei Frauen in die Regierung wählen können – und hat es nicht getan. Das ist wirklich eine verpasste Chance.

swissinfo: Was sagt das über die Schweiz aus?

B.C.: Ich denke, international sendet dies ein sehr schlechtes Signal aus. Die Schweiz hat schon wegen der späten Einführung des Frauenstimmrechts ein schlechtes Image. Sie gilt seit langem als ein konservatives Land, und diese Wahlen verstärken nun dieses Bild.

swissinfo: Stimmt das Bild?

B.C: Ja und nein. Die Tatsache, dass die Schweiz als zweitletztes europäisches Land das Frauenstimmrecht einführte, geht nicht so schnell vergessen. In den letzten 20 Jahren hat sie aber auch riesige Fortschritte gemacht. Dass so kurz nach der Einführung des Frauenstimmrechts 30 Prozent der Parlamentssitze von Frauen besetzt sind – das ist ein enormer Fortschritt.

swissinfo: Was lief denn am 10. Dezember falsch? Ist dies ein Schritt zurück?

B.C.: Vielleicht dachten die politischen Parteien und auch die politische Elite des Landes, dass die Frauenfrage gelöst sei, und dass nun wichtigere Dinge anstünden. Ich glaube, das war ein grosser Fehler, denn die Gleichstellung von Mann und Frau wird nicht automatisch erreicht, dazu braucht es ständige Anstrengungen und Aktionen.

swissinfo: Frauen ausserhalb der Schweiz fragen oft, was denn mit den Schweizer Frauen nicht stimmt – warum sie sich nicht mehr Gehör verschaffen. Haben die Schweizer Frauen sich selber im Stich gelassen?

B.C.: Nein, das glaube ich nicht. Dieses Bild der Schweizer Frauen ist nicht ganz richtig. Die Schweiz hat ein anderes politisches System. Sie hat die direkte Demokratie, damit kann das Volk über konkrete Fragen abstimmen. Die Stimmbürgerinnen und -bürger haben mehr Gelegenheit, sich zu konkreten Fragen zu äussern, und Frauen können ja auch stimmen.

swissinfo: Wollen denn die Schweizer Frauen wirklich die Gleichstellung? Setzen sie sich genügend dafür ein?

B.C.: Die Schweizer Frauen sind eine Mischung aus mehreren Gruppen, und Gleichstellung wird in jeder Gruppe ganz anders definiert. Wenn man zum Beispiel mit Immigrantinnen oder mit Akademikerinnen spricht, sieht man, dass sie unterschiedliche Wünsche und Bedürfnisse haben, und dass sie Gleichstellung anders definieren. Aber ich glaube, der Wunsch nach Gleichstellung, nach gleichen Chancen ist da. Ob sich die Schweizerinnen genügend Gehör verschaffen, kann ich nicht sagen.

swissinfo: Zur Zeit steht eine Reihe praktischer Fragen wie die Einführung einer Mutterschaftsversicherung, mehr Kinderbetreuung und regelmässigere Schulzeiten auf der Tagesordnung. Wie stehen die Chancen mit der neuen Regierung Ihrer Meinung nach?

B.C: Sehr schlecht. Ich finde es sehr bedauerlich, dass es immer auf Kosten der Frauen geht, wenn die Regierung vom Sparen spricht und darüber, wo gespart werden soll. Nein, der bezahlte Mutterschaftsurlaub kommt wohl kaum durch.

swissinfo: Ist das nicht eigentlich eine Schande für eine reiche westliche Gesellschaft – dass sie noch immer keinen Mutterschaftsurlaub hat?

B.C.: Nun, Sie sprechen über Reichtum, aber die Verteilung des Reichtums ist immer eine Machtfrage. Um die Verteilung der Ressourcen wird dauernd gekämpft. Es ist nicht selbstverständlich, dass in einem reichen Land alle einen gerechten Anteil an diesem Reichtum haben.

swissinfo: Was erwarten Sie von dieser Regierung?

B.C.: Ich denke, der Wille zum Sparen ist vorhanden. Aber ich hoffe, der Druck in der Bevölkerung, in Frauenorganisationen ist gross genug, so dass diese Sparbemühungen nicht nur auf Kosten der Frauen und anderer benachteiligter Gruppen gehen werden.

swissinfo-Interview: Imogen Foulkes
(Übertragung aus dem Englischen: Eva Herrmann und Renat Künzi)

Die Schweizer Regierung besteht aus 7 Personen
6 davon sind seit dem 10. Dezember Männer
51,1% der Schweizer Bevölkerung sind Frauen
Diese dürfen erst seit 1971 stimmen und wählen

Seit den Bundesratswahlen vom vergangenen 10. Dezember ist die sozialdemokratische Aussenministerin Micheline Calmy-Rey die einzige Frau in der Schweizer Regierung.

Der SVP-Politiker Christoph Blocher wurde statt der CVP-Justizministerin Ruth Metzler in den Bundesrat gewählt.

Der rechtsfreisinnige Hans-Rudolf Merz setzte sich gegen Christine Beerli aus der eigenen Partei durch und wurde neuer Finanzminister.

Die anderen Magistraten sind Moritz Leuenberger (SP), Joseph Deiss (CVP), Samuel Schmid (SVP) und Pascal Couchepin (FDP).

Am letzten Wochenende protestierten rund 15’000 Menschen gegen die krasse Marginalisierung der Frauen in der Regierung.

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