Studie wirft Schweizer Einbürgerungssystem strukturelle Diskriminierung vor
Der Weg zur Schweizer Staatsbürgerschaft wird immer selektiver: Gut ausgebildete und wohlhabende Immigrant:innen haben klare Vorteile beim Erwerb des Schweizer Passes, wie eine neue Studie zeigt.
Wenn man nicht mit einer Schweizerin oder einem Schweizer verheiratet ist oder ein Schweizer Elternteil hat, kann der Erwerb der Staatsbürgerschaft eine ziemliche Tortur sein.
Für Erwachsene gibt es eine Mindestaufenthaltsdauer von zehn Jahren. Dann sind da noch die manchmal hohen Kosten, die teils obskuren Fragen im Einbürgerungstest (welcher See ist grösser: der Neuenburgersee, der Vierwaldstättersee oder der Zürichsee?) und die unvorhersehbaren Gründe, aus denen die Einbürgerung manchmal verweigert werden – beispielsweise das Mähen des Rasens an FeiertagenExterner Link (wobei einige der fragwürdigen bis willkürlichen Entscheide von höheren Gerichten aufgehoben wurden).
Nach der Überarbeitung der Einbürgerungsbestimmungen im Jahr 2018 wurde es nicht einfacher, zumindest nicht für alle. Das zeigt jetzt eine neue Studie der Eidgenössischen Kommission für Migrationsfragen (EKM), welche die Regierung berät.
Zwischen 2018 und 2020 stieg der Anteil der Hochschulabsolvent:innen unter den «ordentlichen Einbürgerungen“Externer Link auf 57%, verglichen mit 33,5% unter dem alten Recht, so die Studie.
Andererseits sank der Anteil der eingebürgerten Personen mit bildungsfernem Hintergrund von 23,9% auf 8,5%. Dies in einem Umfeld, in dem die Gesamteinbürgerungsquote (Anzahl der Neubürger:innen pro 100’000 Einwohner) gesunken ist, wobei sie inzwischen wieder etwas ansteigt (siehe Grafik).
Anekdotische Beobachtungen von Staatsangestellten bestätigen den Befund der Studie, die eine Karikatur des «typischen“ Neubürgers zeichnet: gut ausgebildet, zwischen 20 und 40, in einer gehobenen Gegend lebend und sich der Regeln bewusst, die mit der Bewerbung um die Staatsbürgerschaft verbunden sind.
Sprachkenntnisse gefordert
In der Studie werden drei Hauptgründe für die Verschiebung genannt. Erstens wurde mit der Reform von 2018 zwar die für die Staatsbürgerschaft erforderliche Aufenthaltsdauer von zwölf auf zehn Jahre verkürzt, gleichzeitig wurde aber festgelegt, dass nur noch Personen mit ständigem Wohnsitz (Ausländerausweis C) einen Antrag stellen können. Dies schliesst im Vergleich mit dem alten Recht rund ein Fünftel der Antragsteller:innen aus, all jene, die nur eine kurzfristige oder vorläufige Aufenthaltsgenehmigung verfügt haben.
Ausserdem begünstigt die neue Regelung Migrant:innen aus einer ausgewählten Gruppe europäischer Staaten, mit denen die Schweiz einschlägige Abkommen unterzeichnet hat.
Ein weiterer Faktor ist der «Paradigmenwechsel». Der Fokus liegt neu auf dem Grad der Integration der angehenden Bürger:innen. Neben den Testfragen zu Geografie, Geschichte und Gesellschaft gibt es nun auch ein Mindestniveau für eine der Schweizer Landessprachen: B1 gesprochen, A2 geschrieben.
Das Erreichen dieses schriftlichen Niveaus sei für viele Menschen besonders schwierig, heisst es in dem Bericht. Gleichzeitig werden Bewerber:innen gefördert, die bereits eine Schweizer Sprache sprechen, wie Einwanderer aus Deutschland, Frankreich oder Italien.
Auch wenn die neuen Regeln einen «präziseren Rechtsrahmen» für die Einbürgerung schaffen, haben die 26 Schweizer Kantone nach wie vor einen grossen Spielraum bei der Festlegung von Regeln.
Etwa bei den sprachlichen Anforderungen oder der finanziellen Unabhängigkeit. Es gibt hiererhebliche Unterschiede: Einige Kantone schliessen alle aus, die in den letzten zehn Jahren Sozialhilfe bezogen haben, andere legen diese Grenze auf drei Jahre fest. Das sei eher chaotisch als föderalistisch, sagt EKM-Präsident Manuele Bertoli.
Strukturelle Diskriminierung
Der Bericht bleibt indes nicht ohne Vorbehalte. Zum Beispiel folge aus dem kurzen untersuchten Zeitraum, dass mehr Forschung notwendig sei, heisst es darin.
Es stellt sich auch die Frage, ob die Verschiebung der Staatsangehörigkeitsprofile auf demografische Faktoren zurückzuführen sein könnte: Seit der Einführung des Freizügigkeitsabkommens mit der Europäischen Union im Jahr 2002 ist die Gesamtzuwanderung in die Schweiz aus (oft gut ausgebildeten) EU-Ländern stark angestiegen.
Laut Bertoli ist der Anstieg der hochqualifizierten Bewerber:innen zusammen mit dem Rückgang der weniger qualifizierten so gross, dass es schwierig ist, dies nur mit den Einwanderungsmustern zu erklären.
Der Bericht, der von Forschenden der Universitäten Neuenburg, Basel und Genf verfasst wurde, weist auch deutlich darauf hin, dass das Erfordernis einer C-Bewilligung die Situation für «bereits marginalisierte Gruppen“ wie Asylsuchende erschwert.
Gewisse Kriterien seien zwar unvermeidlich, aber die «hohe Selektivität der neuen Regeln geht über das Zulässige hinaus“ und stelle einen Fall von «struktureller Diskriminierung“ dar, schreiben die Forschenden.
In einem Interview mit SWI swissinfo.ch wurde eine der Mitautorinnen der Studie, Barbara von Rütte, noch deutlicher. Indem die Einbürgerung für Nicht-EU-Bürger:innen erschwert werde, riskiere das System, «Nicht-Christen und Nicht-Weisse» aus dem globalen Süden zu diskriminieren, sagte sie.
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Die Bestimmungen zum Emfpang von Sozialhilfe könnten sich ausserdem ungerecht auf alleinstehende Frauen auswirken, die überproportional auf solche Hilfen angewiesen seien, fügte sie hinzu.
Bartoli und von Rütte sind sich einig, dass eine breitere Debatte notwendig ist. «Wollen wir nur hochqualifizierte Bürger?“, fragt von Rütte. «Die sozialen Auswirkungen eines solchen Szenarios müssen Teil einer politischen Diskussion sein, die noch nicht begonnen hat.“
Diskussionen werden folgen
Debatten über die Staatsbürgerschaft und die Art und Weise, wie sie vergeben wird, sind in der Schweiz nichts Neues. Regelmässig werden im Parlament Ideen eingebracht, wie etwa der 2021 gescheiterte Versuch, allen in der Schweiz geborenen Personen die Staatsbürgerschaft zu gewähren.
Auch die Wähler:innen haben sich zu Wort gemeldet: Auch hier sind die meisten Vorschläge zur Erleichterung der Einbürgerung gescheitert. Aber 2017 sprachen sich 60% der Schweizer:innen für eine Reform zur Erleichterung des Verfahrens für die Enkelkinder von Einwanderern aus.
Inzwischen setzt sich eine zivilgesellschaftliche Kampagne für eine ehrgeizige Ausweitung der Rechte ein. Die «Vier-Viertel-Bewegung“, benannt nach den rund 25% der in der Schweiz lebenden Menschen ohne Staatsbürgerschaft, will eine öffentliche Abstimmung über die Möglichkeit der Einbürgerung nach fünf Jahren Aufenthalt im Land, unabhängig vom Status.
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Der Präsident der Bewegung, Arber Bullakaj, sagt, er sei von den Ergebnissen der FCM-Studie nicht überrascht. Ganze Gruppen seien durch die Sprach- und Integrationsvorschriften «de facto vom Einbürgerungsprozess ausgeschlossen“.
Das Gesetz von 2018 sei ein «Schlag ins Gesicht für die gesamte Arbeiterklasse“ und einer der Gründe, warum seine Gruppe die Initiative lanciert habe. Diese hat noch bis November Zeit, um 100’000 Unterschriften für eine öffentliche Abstimmung zu sammeln.
Die EKM-Studie werde unter anderem an die Regierung, das Parlament und das Staatssekretariat für Migration weitergeleitet, sagt Bertoli. Die verschiedenen Ideen des Berichts über integrative Modelle der Staatsbürgerschaft werden in der Zwischenzeit als «Grundlage“ für die nächste Sitzung der Komission dienen, die möglicherweise formelle Empfehlungen an die Behörden abgeben könnte.
Editiert und aus dem Englischen übertragen von Marc Leutenegger/ts
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